Lass mich dich lernen...

Predigt zum 21. Sonntag im Jahreskreis (Mt 16,13-20)

In einem Fernsehinterview im Rahmen des Weltjugentages in Köln fragte ein Journalist Jugendliche: „Ihr seid nach Köln gekommen, um hier ein high-light zu erleben. Aber welche Rolle spielt die Kirche in eurem wirklichen Leben, dann wenn hier alles vorbei ist, wenn ihr wieder zu Hause seid?“ Da antwortete eine Jugendliche aus Portugal: „Wir besuchen jeden Tag den Gottesdienst und gehen auch regelmäßig zur Beichte, wie es von uns erwartet wird. Aber wir belügen den Pfarrer. Unser wirkliches Leben sieht anders aus. Wir führen zwei Leben. Eines im Raum der Kirche und ein anderes im Alltag.“

Da sagt eine junge Katholikin, was die meisten Weltjugendtagsbesucher sich nicht zu sagen getrauen, oder für die es schon nicht mehr zu sagen wert ist: Unser Leben ist gespalten. Wir bringen nicht mehr zusammen und übereins: Diese moderne Welt, in der wir leben, unsere Sehnsüchte und Sorgen, unsere Vorstellungen von Freundschaft und Sexualität auf der einen Seite und auf der anderen Seite die Forderungen und Lebensmaxime unserer Kirche. Wir leiden unter dieser Schizophrenie, leiden darunter, dass wir mit einer Lüge leben. Wir möchten in dieser Welt leben und zu ihr gehören, sie mitgestalten, aber den Glauben unserer Kirche und unser kompliziertes Leben zusammen zu bringen, das gelingt uns nicht mehr. Wir bewegen uns andauernd wie Grenzgänger in zwei Welten. Und das zerreibt uns.

Diese Antwort des portugiesischen Mädchens machte mich nachdenklich. Denn sie war grundehrlich. Sie war einerseits von einer großen Erwartung an ihre Kirche und zugleich von einer leisen Enttäuschung geprägt. Nicht die Schaulustigen, nicht die Papstfans, sondern Jugendliche vom Schlag dieses Mädchens sind für mich die eigentlichen wichtigen Besucher in Köln. Ich male mir aus, elche Auswirkungen es haben könnte, wenn wirklich Menschen, die große Verantwortung in unserer Kirche tragen und wenig Möglichkeiten haben, dieser Gedankenwelt von Jugendlichen hautnah zu begegnen, diese Chance zum Hinhören nutzen würden. Ich male mir aus, was geschehen könnte, wenn Verantwortliche in unserer Kirche auf solche junge Menschen in einer Einstellung zugehen würden, wie es einmal der verstorbene Bischof von Aachen, Klaus Hemmerle, von seiner Kirche mit eindrucksvollen Worten gefordert hat: „Kirche hat, zugespitzt formuliert, zur jungen Generation zu sagen: Lass mich dich lernen, dein Denken und Sprechen, dein Fragen und Dasein, damit ich daran die Botschaft neu lernen kann, die ich dir zu überliefern habe.“

Das wäre meiner Meinung nach der eigentliche Schlüssel, der dem Petrusamt anvertraut wurde und den unsere Kirche in der modernen Lebenswelt wieder neu suchen müsste: Lebenshilfen zu formulieren, die einsichtig, gangbar und lebbar sind. Die wie ein Schlüssel ins Türschloss des alltäglichen Lebens greifen und mit ihrer Erfahrung und Lebensweisheit für heutige Menschen Lebensräume und –perspektiven eröffnen.
Wenn das junge Menschen erfahren dürften:
Religion dient dem Leben, Religion befruchtet das Leben, Religion gibt Halt und Orientierung in der Unsicherheit und Unübersichtlichkeit des Lebens, Religion eröffnet neue Lebensdimensionen – dann wäre mir um die Zukunft der Kirche in unserem Land nicht bange.


Pfarrer Stefan Mai

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