Ein Wunder fängt mit dem Sehen an

Predigt zum 18. Sonntag im Jahreskreis (Mt 14,13-21)

Zu schön, um wahr zu sein! Von fünf Broten und zwei Fischen werden 5000 Mann samt Frau und Kind satt und zu guter Letzt bleiben noch zwölf Körbe Brot übrig. Diese Bilder, diese Zahlen bleiben hängen. Einfach zu schön, um wahr zu sein!
Angesichts dieses bombastischen Endes der Brotvermehrungsgeschich-te übersieht man ganz leicht den unscheinbaren Anfang, der den Stein ins Rollen bringt und mit dem alles beginnt: Das große Wunder fängt ganz klein an, mit dem Sehen. Es heißt: „Als Jesus die vielen Menschen sah...“ Eigentlich nichts Besonderes: Sehen. Sehen, das können alle, die nicht blind sind. Und das sind die allermeisten Menschen nicht. Aber sehen ist nicht gleich sehen. Unsere Augen sehen Tag für Tag unzählige Bilder. Aber die gesehenen Bilder hinterlassen oft keinen Eindruck, vieles huscht einfach an den Augen vorbei. Manches wollen wir auch gar nicht sehen. Wir machen lieber die Augen zu, um ein Stück ruhiger und bequemer zu leben.

Aber das Sehen, das von Jesus erzählt wird hat eine eigene Qualität. Der nächste Halbsatz verrät es. Es heißt: „Als Jesus die vielen Menschen sah, hatte er Mitleid mit ihnen.“ Jesus nimmt nicht nur mit den Augen ein Bild auf, sondern leitet es weiter zum Herzen. Das Bild berührt ihn und geht ihm zu Herzen. Jesus sieht nicht einfach eine Masse Leute, sondern sieht hinter den Gesichtern und Blicken Lebensgeschichten und -schicksale, die Sehnsucht der Menschen, ihre Not, ihren eigentliche Lebenshunger. Und was die Augen Jesu hier einfangen endet nicht einfach am Rand der Augen, an der Hornhaut, sondern dringt in sein Herz und bewegt ihn. Durch die Augen dringen die Menschen ins Herz, lassen spüren, was sie brauchen und bewegen zum Handeln. „Wie betest du?“, wurde einmal ein Rabbi gefragt. Der gab zur Antwort: „Jeden Abend öffne ich für Gott mein Herz und lass ihn anschauen, welche Bilder sich tagsüber in mein Herz eingeprägt haben.“ Ja das große Wunder der Brotvermehrung fängt mit dem Sehen an.

Und mit dem Sehen geht es weiter. Jesus übersieht nicht, wie sich seine zwölf Schlitzohren elegant aus der Bredoulle ziehen wollen. Er zwingt sie hinzuschauen und fordert sie ein. Er weiß, dass sie nicht viel haben, lediglich zwei Fische und fünf Brote. Aber er sieht glasklar: Wenn Menschen bereit sind, das wenige, das sie haben, zur Verfügung zu stellen, geht das Wunder weiter. Jesus ist überzeugt: Was mich selbst nährt und stärkt, stärkt auch andere, wenn ich es weitergebe. Aber Jesus sieht weder seine Jünger noch sich selbst als Retter der Nation. Bevor er die Brote seinen Jüngern zu Verteilen gibt, heißt es: Er nahm die fünf Brote und die zwei Fische, blickte zum Himmel auf, sprach den Lobpreis. Das ist die dritte Sehweise Jesu, der Blick zum Himmel: Nur wenn Gott im Mittelpunkt steht und er als Geber des Guten deutlich wird, wird auch die Zuwendung zum Menschen heilsam und verkommt nicht zur Selbstdarstellung.

Das Wunder der Brotvermehrung ist für mich vor allem das Wunder einer besonderen Art zu sehen. Kurz auf den Nenner gebracht, sagt sie mir:
1. Lass die Bilder, die du mit deinen Augen siehst auch dein Herz berühren.
2. Sieh dann klar deine eigene Möglichkeiten, wie du darauf reagieren kannst. Du brauchst und kannst nicht mehr geben als du hast.
3. Und vergiss den Blick zum Himmel nicht, er befreit vor aller falscher Selbsteinschätzung und -überschätzung.


Pfarrer Stefan Mai

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