Jeder braucht seine Mutmachgeschichte

Predigt zum 15. Sonntag im Jahreskreis (Mt 13,1-9)

Den meisten ist es nicht bewusst, es ist aber so: Gute Prediger predigen immer ein Stück sich selbst. In guten Predigten werden nicht einfach fromme Weisheiten verkündigt, sondern hinter den Worten schimmert immer ein Stück die Person des Predigers hindurch. Der Prediger lässt durchblicken, was ihn bewegt, was ihn beschäftigt, worüber er sich ärgert, was ihn schmerzt, worüber er sich freut, worunter er leidet, welche Fragen ihn bewegen, wo er zweifelt, was ihm auffällt, worin er Halt findet, was ihm leben hilft. Und gerade weil er das tut, spricht das andere an. Denn sie spüren: Auch er ist ein Mensch wie ich, ein Mensch mit Hoffnungen und Sorgen, mit Freuden und Ängsten, mit Träumen von einem gelingenden Leben und mit seinen Enttäuschungen und Niederlagen.
Wenn ein Prediger das nicht tut, dann bleiben auf Dauer seine Worte blutleer. Sie mögen noch so gescheit, noch so kirchentreu, noch so geschliffen sein, sie kommen nicht rüber und erreichen nicht die Herzen.

Wenn Sie auf diesem Hintergrund einmal das heutige Evangelium, die bekannte Geschichte vom Sämann, hören, dann erscheint es in einem ganz anderen Licht. Dann ist es nicht nur eine Geschichte, die gläubige Menschen auffordert, den ausgestreuten Samen des Wortes Gottes aufzunehmen, dann erahnen Sie schnell hinter der Sämannsgeschichte die besondere Lebenssituation des Predigers, der Jesus heißt.

Ein Sämann ging aufs Feld, um zu säen. Ein Teil der Körner fiel auf den Weg, und schwup die wupp waren sie weg, in den Mägen der Vögel. Ein anderer Teil viel auf steinigem Boden, ging wie ein Schnellzünder auf, aber kein Durchhaltevermögen, es fehlten tiefe Wurzeln. Ein anderer Teil landete in den Dornen, ging auf, aber hatte keine Chance, viel zu wenig Licht. Da bekommt dieser Sämann Jesus zu spüren: Vieles, von dem, was ich weitergeben und ausstrahlen möchte, kommt nicht an und ist für die Katz. Wer lässt sich schon von meinen Worten anregen und von dem, was ich tue, anstecken? Mit diesem Gleichnis erzählt Jesus seine eigene Misserfolgsgeschichte. Aber! Er kommt nicht ins Jammern und nicht ins Schimpfen über die böse Welt. Damit es nicht zu einer Frustrationsgeschichte, sondern zu einer Motivationsgeschichte kommt, spricht er sich selbst Mut zu: Schau doch, ein Teil deines Bemühens trägt Frucht, ein Teil deiner Worte kommen bei Menschen an. Und das genügt!

In Zeiten der Niedergeschlagenheit und des Frustes, an Punkten, wo vieles im Leben anders kommt, als man es sich erträumt hat, in Situationen, wo einem alles wurst ist oder die Angst hoch steigt, da braucht es solche Worte, die man sich selbst zuspricht. Mutmachworte, die wie die Stichworte einer Souffleuse dem Schauspieler wieder auf die Spur bringen, einem helfen, den verlorengegangenen Lebensfaden wieder aufzunehmen. Da braucht es oft eine ungewohnte Sicht, die mich wieder weiter sehen lässt, Zeichen, die mir neu Mut machen.
Manchmal kommen solche Zeichen ganz ungewohnt daher, wie bei dieser jungen Frau, Jennie Nash.
Jennie Nash gehörte zum Komitee einer Kirchengemeinde, die eine große Benefizveranstaltung vorbereitete. Tolle Musik, gutes Essen und ein Saal voller Menschen in festlicher Stimmung sollten für eine gute Atmosphäre sorgen. Das Thema hieß „Sternennacht in Schwarz und Weiß“, was dem Ganzen eine himmlische Note verleihen sollte und außerdem als dezenter Hinweis auf die Kleiderordnung gedacht war. Jennie Nash wusste, was sie an diesem Abend anziehen würde: einen langen, schwarzen Samtrock mit einem bodyähnlichen Oberteil. Aber dann kam wenige Tage vor dem großen Fest das Ergebnis einer Untersuchung: Brustkrebs, bösartig. Am Sonntag war sie bei jedem Kirchenlied in Tränen ausgebrochen und musste sich aus dem Gottesdienst hinausstehlen. Furchtbar war für sie die Gewissheit: Bald wird der Chirurg der Brust ein Stück Gewebe entnehmen und sie überlegte, ob sie überhaupt an der großen Veranstaltung teilnehmen sollte. Aber dann wurde Jennie Nash klar, dass diese Benefizveranstaltung der letzte öffentliche Anlass war, an dem sie mit zwei intakten Brüsten teilnehmen würde. Und sie ging zum Kleiderschrank und griff zum roten Kleid. Sie kaufte es in einer Blitzaktion während eines Urlaubs mit ihrer Schwester in einer Boutique als Schnäppchen. „Das Kleid ist wie für sie geschaffen“, sagte damals eine Frau im Laden. „Es betont die Kurven genau an den Stellen, an denen Sie sie haben.“ Jennie hatte damals absolut keine Ahnung, wo sie ein solches Kleid tragen sollte, aber sie kaufte es. Und jetzt zog sie es an – und mitten im Saal voller Schwarz und Weiß war sie die einzige Frau in Rot. Alle Augen flogen auf sie und sie kam sich vor wie die schönste Frau der Welt und fühlte sich in dem roten Kleid ungeheuer lebendig und spürte die Kühle des Kleides aus Satin auf ihren Brüsten, die wenigstens in dieser Nacht ihr noch ganz gehörten. Alle im Raum, die sie kannten, wussten, dass bei Jennie Krebs festgestellt worden war und wunderten sich.
Einen Tag später rief sie die Vorsitzende des Komitees an und meinte: „Du warst nicht nur die schönste Frau im Saal an diesem Abend, Jennie, du warst auch die mutigste. Viele Frauen wären in deiner Situation überhaupt nicht gekommen, geschweige denn in so einem Kleid.“ Mutig, dachte Jennie, mutig? Und sie wusste jetzt, so fühlt sich Mut an, diese Gewissheit, dass nicht einmal der Krebs ihr das Selbstvertrauen nehmen würde. Sie wusste: Mit dem roten Kleid habe ich mir Mut angezogen und der passte mir genauso gut wie das rote Kleid.


Pfarrer Stefan Mai

© Stefan Mai 2001 - 2024
Alle Rechte vorbehalten.
Vervielfältigung nur mit Genehmigung von Pfarrer Stefan Mai.

www.stefanmai.de