Fleisch geworden

Predigt zum Weihnachtsfest 2004 (Joh 1)

Einleitung

Es gibt einen afrikanischen Stamm, der eine besondere Bußgewohnheit hat. Tritt ein Gast in die Hütte, wird er mit den Worten begrüßt: Es wird hell, wenn du kommst. Bei diesem afrikanischen Gruß muss ich an einen Pfarrer denken, der sich eine süffisante Begrüßungsformel angewöhnt hat. Er sagt: Welcher Glanz kommt in meine arme Hütte!
„Licht, das uns erschien“ singen wir an Weihnachten. „Das wahre Licht kam in die Welt“, hören wir im heutigen Evangelium. Ein Wortbild, das dem Gruß der Afrikaner und dem Pfarrer ungeheuer verwandt ist. Durch einen Menschen kommt Licht in die Welt – nicht nur damals.

Predigt

Der inzwischen über 80-jährige evangelische Theologe Jörg Zink wurde in einer Fernseh-Diskussionsrunde im November dieses Jahres nach einer prägenden Erfahrung gefragt, die seinem Leben die entscheidende Richtung gegeben hat.
Jörg Zink erzählte: Ich war im Krieg bei einer Fliegerstaffel. Nach einem Kurzurlaub bin ich nicht rechtzeitig an die Front zurücklgekommen. Dafür wurden mir ein paar Wochen Gefängnis aufgebrummt. In diesem Gefängnis waren auch französische Widerstandskämpfer inhaftiert. Jeder wusste, dass diese gefoltert und bis ins Letzte gedemütigt wurden. Jedem war klar: Keiner dieser Widerstandskämpfer wird dieses Gefängnis je mehr lebend verlassen. Einer nach dem anderen wird in den nächsten Wochen an die Wand gestellt.
Unter den Männern war einer, der unter allen Gefangenen herausstach: ein hagerer Franzose, ruhig, gelassen, freundlich sogar gegenüber seinen Peinigern. Was wohl das Geheimnis dieses Mannes ist, fragte sich Jörg Zink. Es fiel ihm nur auf, dass er bei jedem Mittagessen das Kreuzzeichen machte.
Per Zufall bekam Jörg Zink in dieser Zeit das Neue Testament in die Hand. Er las es zum ersten Mal in seinem Leben ganz bewusst. Was da über Jesus stand, das erinnerte ihn an den gelassenen Franzosen. Er spürte: Dieser ist vom gleichen Strickmuster, wie Jesus im Neuen Testament geschildert wird. Er verhielt sich in seinem Reden und Tun so wie dieser Jesus. Wenn er auf den Franzosen schaute, hatte er den Eindruck: In diesem Menschen sind die Wesenszüge Jesu Fleisch und Blut geworden. Das weckte seine Neugier: Von diesem Jesus wollte er mehr wissen. Wenn man da so wird wie dieser Franzose, dann rentiert es sich, sich in diesen Jesus zu vertiefen, seine Worte zu verinnerlichen und sich an seinen Taten auszurichten.
Und Jörg Zink entschloss sich zum Theologiestudium.
„Und das Wort ist Fleisch geworden“, der zentrale Satz des heutigen Weihnachtsevangeliums, klingt immer so hochgeistig und „theologisch“. Aber diese Aussage war weder zur Zeit des Johannesevangeliums „überirdisch“ gemeint, noch ist sie heute so zu verstehen. Im Johannesevangelium geht es bei dem Satz „Und das Wort ist Fleisch geworden“ schlicht und einfach darum: An den Worten und am Verhalten Jesu kann man ablesen, wie sich Gott vorstellt, dass Menschen miteinander umgehen und diese Welt gestalten. Und diese „Inkarnation“ soll weitergehen. Jörg Zink hat sie in dem Franzosen erlebt, der angesichts des Todes ruhig und gelassen war. Jeder von uns kennt andere Gesichter, in denen die Worte Jesu Hand und Fuß bekommen haben. „Inkarnation“ ist in jeder Generation neu nötig: Es braucht Menschen, an denen man ablesen kann, wie Gott sich die Welt vorstellt.


Pfarrer Stefan Mai

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