„Komm herein“

7. Rorategottesdienst 2004

Wie jedes Jahr sollte auch in diesem die sechste Klasse das weihnachtliche Krippenspiel aufführen. Mitte November begann Lehrer Larssen mit den Vorbereitungen, wobei zunächst die verschiedenen Rollen mit begabten Schauspielern besetzt werden mussten.

Thomas, der für sein Alter hoch aufgeschossen war und als Ältester von vier Geschwistern häufig ein ernstes Betragen an den Tag legte, sollte den Joseph spielen. Tinchen, die lange Zöpfe hatte und veilchenblaue Augen, wurde einstimmig zur Maria gewählt, und so ging es weiter, bis alle Rollen verteilt waren außer der des engherzigen Wirts, der Maria und Joseph von seiner Tür weisen sollte. Es war kein Junge mehr übrig. Die beiden Schülerinnen, die ohne Rolle ausgegangen waren, zogen es vor, sich für wichtige Arbeiten hinter der Bühne zu melden.
Nun war guter Rat teuer. Sollte man jemanden aus einer anderen Klasse bitten? Und wen?
Joseph, alias Thomas, hatte den rettenden Einfall. Sein kleiner Bruder würde durchaus in der Lage sein, diese unbedeutende Rolle zu übernehmen, für die ja nicht mehr zu lernen war als ein einziger Satz – nämlich im rechten Augenblick zu sagen, dass kein Zimmer frei sei.
Lehrer Larssen stimmte zu, dem kleinen Tim eine Chance zu geben. Also erschien Thomas zur nächsten Probe mit Tim an der Hand, der keinerlei Furcht zeigte.
Er bekam eine blaue Mütze auf den Kopf und eine Latzschürze umgebunden, was ihn als Herbergsvater kennzeichnen sollte; die Herberge selbst war, wie alle anderen Kulissen, noch nicht fertig. Tim stand also mitten auf der leeren Bühne, und es fiel ihm leicht zu sagen: „Nein, kein Zimmer frei!“, als Joseph ihn drehbuchgetreu mit Maria an der Hand nach einem Zimmer fragte.

Wenige Tage später war die Vorstellung. Joseph und Maria betraten die Bühne, wanderten schleppenden Schrittes zur Herberge und klopften an. Die Fensterläden öffneten sich, und heraus schaute Tim unter seiner großen Wirtsmütze.
„Habt Ihr ein Zimmer frei?“, fragte Joseph mit müder Stimme.
„Ja, gerne“, antwortete Tim freundlich.
Schweigen breitete sich aus im Saal und erst recht auf der Bühne. Joseph versuchte vergeblich, irgendwo zwischen den Kulissen Lehrer Larssen mit einem Hilfezeichen zu entdecken. Maria blickte auf ihre Schuhe.
„Ich glaube, Sie lügen“, entrang es sich schließlich Josephs Mund. Die Antwort aus der Herberge war ein unüberhörbares „Nein“. Dass die Vorstellung dennoch weiterging, war Josephs Geistesgegenwart zu verdanken. Nach einer weiteren Schrecksekunde nahm er Maria an die Hand und wanderte ungeachtet des Angebotes weiter bis zum Stall.

Hinter der Bühne waren inzwischen alle mit dem kleinen Tim beschäftigt. Lehrer Larssen hatte ihn zunächst vor dem Zorn der anderen Schauspieler in Schutz nehmen müssen, bevor er ihn zur Rede stellte. Tim erklärte, dass Joseph eine so traurige Stimme gehabt hätte, da hätte er nicht nein sagen können, und zu Hause hätten sie auch immer Platz für alle, notfalls auf der Luftmatratze.
Herr Larssen zeigte Mitgefühl und Verständnis. Dies sei doch eine Geschichte, erklärte er, und die müsse man genauso spielen, wie sie aufgeschrieben sei – oder würde Tim zum Beispiel seiner Mutter erlauben, dasselbe Märchen einmal so und dann wieder ganz anders zu erzählen, etwa mit einem lieben Wolf und einem bösen Rotkäppchen?
Nein, das wollte Tim nicht und bei der nächsten Aufführung wollte er sich Mühe geben, ein böser Wirt zu sein; er versprach es dem Lehrer in die Hand.

Die zweite Aufführung fand im Gemeindesaal der Kirche statt und war für alle Beteiligten noch aufregender.
Unter ärgsten Androhungen hatte Thomas seinem kleinen Bruder eingebläut, dieses Mal auf Josephs Anfrage mit einem klaren Nein zu antworten.
Der große Saal war voll bis zum letzten Sitzplatz. Dann ging der Vorhang auf, das heilige Paar erschien und wanderte – wie es aussah etwas zögerlich – auf die Herberge zu. Joseph klopfte an die Läden, aber alles blieb still. Er pochte erneut, aber sie öffneten sich nicht. Maria entrang sind ein Schluchzen. Schließlich rief Joseph mit lauter Stimme: „Hier ist wohl kein Zimmer frei?“ In die schweigende Stille, in der man eine Nadel hätte fallen hören, ertönte ein leises, aber deutliches „Doch“.

Für die dritte und letzte Aufführung des Krippenspiels in diesem Jahr wurde Tim seiner Rolle als böser Wirt enthoben.
Er bekam Stoffflügel und wurde zu den Engeln im Stall versetzt.
Sein Halleluja war unüberhörbar, und es bestand kein Zweifel, dass er endlich am richtigen Platz war.

(Nach Ruth Schmidt-Mumm, Wie man zum Engel wird
aus: Ursula Richter (Hg.), Die schönsten Weihnachtsgeschichten am Kamin)


Wie anders würde die Welt ausschauen, wenn wir Menschen diese Grundhaltung des kleinen Tim in uns tragen würden, bereitwillig Menschen unsere Tür öffnen, ihre Fragen und Bedürfnisse ernst nehmen würden. Und ich bin aber auch überzeugt, sie würde genauso verdutzt dreinschauen wie die anderen Theaterspieler auf der Bühne.


Pfarrer Stefan Mai

© Stefan Mai 2001 - 2024
Alle Rechte vorbehalten.
Vervielfältigung nur mit Genehmigung von Pfarrer Stefan Mai.

www.stefanmai.de