Komm doch zur Welt

2. Rorategottesdienst 2004

Eine jüdische Geschichte erzählt:
Der alte Rabbi saß wie gewohnt in seinem Zimmer und studierte. Da rissen plötzlich die Schüler des Rabbi die Tür auf, stürzten herein und riefen ganz aufgeregt: Rabbi, der Messias ist heute in unsere Stadt gekommen. Der alte Mann stand auf, ging ans Fenster und schaute auf die Straße. Er kam langsam wieder zurück und setzte sich wieder an seinen Schreibtisch. Er schwieg. „Aber was ist nun, was sollen wir tun?“, fragten die Schüler einer nach dem anderen. „Nichts sollt ihr tun, weiterlernen sollt ihr“, gab der Rabbi zur Antwort. „Wie kann denn der Messias gekommen sein, wenn sich nichts in der Welt verändert hat!“

Jesus kam vor 2004 Jahren in Bethlehem zur Welt, das feiern wir Weihnachten. Wir Christen glauben: In ihm kam Gott zur Welt. Aber warum rufen wir dann jeden Advent immer wieder neu: Ach komm, komm doch zur Welt. Ich vermute, weil wir unsere Welt oft so erleben, als wäre Gott noch nicht angekommen. Wir haben das Gefühl: Gott ist noch nicht angekommen. Wenn er wirklich angekommen wäre, dann würde und müsste die Welt doch anders ausschauen.

Der Schrei nach Erlösung, nach Frieden, nach Gerechtigkeit bleibt trotz der Geburt Jesu in unserer Welt bestehen. Und Menschen warten darauf nach wie vor, dass Gott sein Versprechen einlösen wird, dass er alle Tränen trocknen und alles heil und neu machen wird. Aber zugleich frage ich mich: Wie viel Tränen, wie viel Leid, wie viel Böses, wie viel Ungerechtigkeit könnte unserer Welt erspart bleiben, wenn Menschen ernst nehmen würden: Ja Gott kam in diesem Menschen Jesus zur Welt. In ihm ist konkret geworden, wie Gott sich vorstellt, wie Menschen menschlich leben können. So zu leben wie er ist die einzige Möglichkeit, wie in unsere Welt mehr Menschlichkeit einkehrt.


Pfarrer Stefan Mai

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