Patronin der Gefangenen und Sterbenden

Predigt zum Barbaragottesdienst der Oberschlesier am 27.11.2004

Wer alte Barockkirchen besucht, den schauen oder lachen viele Heiligen entgegen. Die Künstler gaben ihnen Gegenstände oder Tiere in die Hand oder legten sie ihnen zu Füßen. Diese Attribute sind ihr Erkennungszeichen und weisen auf bestimmte Punkte ihrer Lebensgeschichte oder der Heiligenlegende hin. Wer sich ein wenig in der christlichen Ikonographie auskennt, der weiß: Wenn da ein Mann einen Schlüssel zeigt oder ein auf den Kopf gestelltes Kreuz hält, das ist Petrus. Der Mann mit Mitra auf dem Kopf und goldenen Äpfeln in der Hand ist der heilige Nikolaus. Und der Reiter auf dem Pferd, der den Mantel teilt, Martin. Die Frau, die in der Frömmigkeitsgeschichte der Oberschlesier neben der Heiligen Anna und Hedwig eine große Rolle spielt, ist die heilige Barbara Sie trägt einen Turm oder einen Kelch. Den Hintergrund dazu erzählt uns die Legende:

Barbara ist die Tochter eines wohlhabenden Griechen. Da die Tochter sehr schön ist, sperrt sie der Vater während seiner Geschäftsreisen in einen Turm ein, damit ihr niemand schaden kann. Er möchte sie einem jungen Mann zur Frau geben, den er selbst aussucht. Aber je mehr der Vater Barbara in den Turm seiner Vorstellungen festhalten möchte, desto mehr entreißt sie sich seinem Einfluss. Sie denkt über vieles nach und lässt sich nicht von ihrem Vater bestimmen. Sie schreibt christlichen Gelehrten und kommt so mit ihnen ins Gespräch. Was der Vater verhindern wollte, passiert. Sie bekehrt sich zum Christentum. Um ihren Glauben an den dreieinen Gott zu demonstrieren lässt sie ein drittes Fenster in den Turm brechen. Sie möchte damit ausdrücken, dass Gott mit ihr in diesem Turm wohnt und ihren engen Horizont weitet und sie von der Enge des Vaters befreit.

Als der Vater heimkommt, dreht er durch. Er lässt seine Tochter grausam foltern und lässt sie in ein Gefängnis stecken, weil sie sich weigert, die alten Götter anzubeten. Aber auch hier im abgeschirmten Gefängnis besucht sie ein Engel und bringt ihr das Abendmahl als letzte Wegzehrung.
Aufgrund dieser Legende gaben unsere Vorfahren der heiligen Barbara den Turm und den Kelch mit Hostie in die Hand und riefen sie als Nothelferin in den großen Nöten der Gefangenschaft und des Sterbens an. Sie wählten sie zur Patronin der Gefangnen, weil sie überzeugt waren: Wer wie Barbara eingesperrt wurde in einen Turm und einen Kerker, der wird deshalb die Menschen gut verstehen, die sich gefesselt und eingesperrt vorkommen. Wer vor dem Sterben steht und noch einmal durch das Abendmahl gestärkt wird, der weiß, was Sterbende brauchen.

Barbara, die Trösterin der Gefangenen und der Sterbenden, von den Alten verehrt, für den modernen Menschen ohne Bedeutung?
Wie viele Menschen sind auch heute gefangen von den Erwartungen ihrer Umwelt. Wie viele können nicht aus sich heraus und fühlen sich gefangen in ihrer Angst. Würden sie es wagen, ihren sicheren aber einengenden Turm zu verlassen, sie hätten keinen Schutz und würden sich bloßgestellt fühlen und wären unwahrscheinlich verletzlich. Und so vergraben sie sich noch mehr in ihrem eigenen Turm und verschließen alle Fenster nah außen. Wie viele sind gefangen in ihrer eigenen Sucht, gegen die sie nicht ankommen, oder in Lebensmustern, die sie nicht ablegen können. Sie sind gefangen in ihren Gewohnheiten und Denkmustern und erstarren darin.

Die Barbarafigur mit ihrem Turm ist die Anfrage, ob nicht der Glaube an Gott eine entscheidende Hilfe sein kann, der mitten im Verfangen- und Gefangensein ein Stück mehr Licht in das dunkle Verließ und einen weiteren Blick nach außen hin zulässt?

Wie viele Menschen treibt die Angst vor dem Sterben um, wenn es auf sie zukommt und wissen nicht, wie sie damit umgehen sollen. Denn die Riten zur Angstbewältigung in dieser höchsten Not sind uns ausgegangen. Immer mehr Menschen können nichts mehr mit dem Zeichen der letzten Wegzehrung etwas anfangen. Sie empfinden es eher noch als Angstmache. Um den Kranken diesen Schock zu ersparen, scheuen sich Angehörige oft, um dieses Zeichen der letzten Wegzehrung zu bitten.

Die Barbarafigur mit dem Kelch und darauf die runde Hostie als Bild des Trostes und der Hoffnung auf Vollendung ist für mich die Anfrage: Was für letzte Hoffnung gibt es wirklich an der brüchigsten Stelle im Leben, im Sterbeprozess, wenn nicht den Glauben, dass mein Leben, das immer Fragment bleibt doch einmal bei Gott seine Vollendung erfährt?


Pfarrer Stefan Mai

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