Zwischen diesen Worten wird auch dein Sterben liegen

Predigt am Christkönigssonntag im Rahmen der Ausstellung „Sinndeutungen des Todes“(Ev: Lk 23,35-43)

Die sieben Worte Jesu am Kreuz sind die letzten Worte, die Jesus nach den Evangelien am Kreuz in seinem Sterben gesprochen hat. Wir kennen sie:
Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun.
Amen, ich sage dir: Heute noch wirst du mit mir im Paradies sein.
Dies ist dein Sohn - dies ist deine Mutter!
Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?
Mich dürstet!
Es ist vollbracht!
Vater, in deine Hände lege ich meinen Geist.

Wenn wir diese Worte hören, die im Mittelpunkt von Passionsandachten stehen und die oft von berühmten Komponisten vertont wurden, dann meinen wir: Jesus hat diese sieben Worte nacheinander am Kreuz bei seinem Sterben gesprochen. Es entsteht der Eindruck, der sterbende Jesu hätte uns eine Art Mustersterben vorgemacht, einen Prozess durchlaufen, noch einmal Menschen, die ihm weh getan haben, verziehen; einem Verzweifelten Mut und Hoffnung gemacht; seine Mutter und seinen Freund mit einem Rat getröstet; in seiner Verzweiflung die Warum-Frage gestellt; noch einmal nach dem Leben gelechzt; aber dann in königlicher Würde und Majestät sein Lebenswerk vollendet und es in völliger Ergebung in die Hände Gottes zurückgelegt.

Ein anderer Eindruck entsteht aber, wenn ich die Evangelien jeweils für sich gesondert lese, denn da stirbt Jesus in den verschiedenen Evangelien jeweils einen anderen Tod, mit anderen letzten Worten auf den Lippen:
Im Markusevangelium stirbt Jesus mit einem verzweifelten Schrei: Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen? Diese Frage ist sein einziges und letztes Wort am Kreuz. Es ist ein Hadern mit Gott. Und solange Jesus am Kreuz hängt, bekommt er keine Antwort.
Genauso im Matthäusevangelium. Nur sind hier die schrecklichen Naturereignisse nach dem Tod Jesu noch gesteigert: Erdbeben, Gräber öffnen sich...Der Leser kann ahnen, dass Gott diesen Tod nicht einfach schweigend hinnehmen wird.
Ganz anders im Lukasevangelium. Hier stirbt Jesus gefasst und gelassen – wie ein griechischer Philosoph. Wie gelebt, so gestorben: Jesus bleibt seiner eigenen Botschaft treu. Er vergibt seinen Feinden. Der große Beter stirbt mit einem Gebet auf den Lippen: Vater, in deine Hände lege ich meinen Geist. Es ist das Gebet, das fromme Juden jeden Abend beten. Jesus betet dieses bewusst am „Abend“ seines Lebens ( vgl. Ps 31,6).
Im Johannesevangelium wird Jesus zwar der Kreuzigung ausgeliefert, aber Herr des Geschehens bleibt er selbst. Er hat alle Fäden in der Hand. Obwohl seine Hände gebunden sind, bringt er sein Lebenswerk zur Vollendung und erklärt den Tod am Kreuz majestätisch zum Ziel seines Lebens: Es ist vollbracht.

Wem von den Evangelisten soll ich jetzt Glauben schenken? Wie empfinden Sie diese Spannung zwischen den ergebenen Sterbeszenen der Evangelisten Lukas und Johannes auf der einen Seite und auf der anderen Seite den aufschreienden Sterbeszenen der Evangelisten Markus und Matthäus? Wie empfinden Sie diese Ungereimtheit zwischen den Sterbeszenen in Erhabenheit und Würde und auf der anderen Seite im Schrei und in der Verzweiflung? Ich persönlich bin dankbar um diese nicht aufzulösende Spannung. Denn sie sagt mir eines: Zwischen diesen Worten und zwischen diesen Arten zu sterben wird auch dein Sterben liegen. Und die Frage ist offen: Welches wird wirklich mein eigenes sein?


Nach der Kommunion

-Leise Musik spielt-

Zwischen den Worten Jesu am Kreuz wird auch mein und dein Sterben liegen. Viele Menschen haben mir dies durch ihr Sterben gezeigt:

Ich werde früh am Morgen auf die Intensivstation der Hofgartenklinik in Aschaffenburg gerufen. Wie ich die Türe aufmache und die alte Frau aus der Pfarrei mich sieht, hebt sie die Arme und ruft: „Kaplänchen, heut geht’s heim. Meine Mutter, mein Mann und mein Vater warten dort drüben schon auf mich.“

„Unter wahnsinnigen Schmerzen und lautem Schreien ist sie gestorben. Furchtbar war das. So ein Sterben hat meine Frau nicht verdient“, schluchzte der einfache Bauer aus dem Spessart. Wir gingen ins Schlafzimmer, wo seine Frau aufgebahrt war. Abgemergelt und mit knöchernen Fingern zum - Gebet gefaltet - lag sie da. Auf ihr ein weißes Leinentuch. Und auf dem Linnentuch lagen um die Tote herum Wermutzweige. Ich fragte nach der Bedeutung. Da meinte der Mann: „Wermut ist ein Mittel gegen die Schmerzen. Wenn kein Mittel gegen die Schmerzen mehr geholfen hat und der Sterbende ein grausames Sterben hatte, haben meine Vorfahren schon Wermut als Zeichen dafür auf das Totenbett gelegt.“

„Mama, du machst dich jetzt auf die Reise“, flüsterte die Tochter ihrer sterbenden Mutter ins Ohr. „Wir lassen dich jetzt los und du lässt uns los. Danke für alles, was du für uns getan hast. Komm drüben gut an und denk an uns!“

Plötzlicher Herzinfarkt mit 50. Tochter und Sohn stehen ohnmächtig am Sterbebett. Sie erzählen, wie ihr Vater beim Sport plötzlich zusammenbrach. Ich frage: „Ist Ihre Mutter auch schon gestorben?“ „Nein!“ gab die Tochter zur Antwort, „aber die beiden wollten nichts mehr miteinander zu tun haben. Deshalb möchte ich auch nicht, dass sie jetzt geholt wird.“ „Doch, ich werde anrufen,“ konterte ihr Bruder, „egal, was in der letzten Zeit war, sie hatten sich einmal gern und haben zwanzig Jahre miteinander gelebt. Sie gehört hierher.“

Sterbezimmer im Altenheim. „Die Frau hat acht Kinder aufgezogen. Aber niemand findet es für nötig, beim Sterben dabei zu sein. Ich habe sie gerufen, weil Frau N. eine gläubige Frau war. Spenden Sie ihr bitte die Sterbesakramente, auch wenn sie schon seit Tagen nichts mehr mitbekommt“, meint die Altenpflegerin. Ich beginne mit „Im Namen des Vaters und des Sohnes...“ und die alte Frau zieht mit letzter Kraft das Kreuz über sich. Die Altenpflegerin steht mit offenem Mund da und wird kreidebleich.

„Wir sehen uns heute zum letzten Mal“, sagte mir der Internist, den ich als Kaplan in seiner Krankheit oft besucht habe und der mir in jungen Jahren ein großer Lehrmeister im Umgang mit Sterben und Tod war. „Bitte, geben Sie mir jetzt mein Sterbekreuzchen in die Hand und dann schauen Sie mir noch einmal tief in die Augen. Ich möchte mich vergewissern, ob all die Worte, die wir an diesem Bett hier miteinander gewechselt haben, ehrlich waren. Und wenn Sie mich in ein paar Tagen beerdigen, bevor ihr mich zum Grab tragt, gehen Sie noch einmal ans Mikrofon und fragen in meinem Namen die Leute: Wenn du jetzt sterben müsstest, könntest du vor dir und deinen Mitmenschen mit deinem Leben zufrieden sein?“

Sie hat immer größten Wert auf ihr Äußeres gelegt, auf eine gepflegte Frisur, schöne Kleider, einen guten Duft. Aber der Tod auf dem Klo. Es wäre ihr ein Gräuel gewesen, wenn sie gewusst hätte, dass man sie einmal so finden würde.

Schon seit fünf Jahren lag sie auf der Pflegestation. Schon lange machte die MS-Kranke ihre Augen nicht mehr auf. Als an ihrem Sterbetag ihr Sohn – wie gewohnt – nach der Arbeit sie besuchte, da öffnete sie noch einmal ganz groß die Augen, schnaufte noch einmal tief und kniff die Augen zusammen. Und als letztes Zeichen floss ihr ein große Träne über die Wange wie eine große Zusammenfassung für ihr schweres Leben.

„Ich weiß nicht, ob ich das schaffe“, presste der Sterbende mit letzter Kraft heraus. „Was denn?“ fragte die Tochter nach. „Ich muss auf einen ganz hohen Berg!“ „Papa, das schaffst du“, gab die Tochter zur Antwort. Und nach einiger Zeit wie ein Seufzer der Erleichterung: „Geschafft!“ Und der alte Mann starb.

Zwischen den sieben Worten Jesu am Kreuz wird auch dein und mein Sterben liegen.


Pfarrer Stefan Mai

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