Von einem Blick kann ich leben

Predigt zum 31.Sonntag im Jahreskreis (Lk 19,1-10)

Wie fühlen Sie sich, wenn Sie mit einem Menschen reden und im Gespräch spüren: Der kann mich überhaupt nicht richtig anschauen. Es verunsichert total, wenn der Blick immer wieder woanders hingeht.
Wie fühlen Sie sich, wenn Sie in der Fußgängerzone laufen und genau sehen: da hat Sie einer erkannt, aber er tut so in diesem Moment, als habe er Sie überhaupt nicht gesehen und wechselt schnell die Straßenseite? Das hinterlässt einen bitteren Geschmack.
Wie fühlen Sie sich, wenn einer Ihnen nachschreit: „Geh mir aus den Augen!“ oder „ich will dich nie mehr sehen!“ Wir wissen, wenn Menschen sich nicht mehr in die Augen schauen können, wenn sie sich nicht mehr sehen wollen, dann ist eine Beziehung gefährdet. Wir wissen, dass viel Unrecht in unserer Gesellschaft geschieht, weil einfach weggeschaut wird. „Die größte Sünde ist heutzutage das Wegschauen“, meinte einmal ein alter Bischof, „die Gleichgültigkeit unter vielen Menschen.“

Wie fühlen Sie sich dagegen, wenn erwartungsvoll Augen auf Sie gerichtet werden, wenn ein Blick der Sympathie auf Sie fällt, wenn Sie gerne gesehen werden? Wir wissen, ein Kind kann sich nur gesund entwickeln, wenn es von vertrauten Gesichtern gern und lieb angeschaut wird, wir wissen, dass ein Blick oft der erste Augenblick einer Beziehung ist.

Was ein Blick bedeutet, das wird mir aus der Erzählung eines Missionars deutlich: In einer Stadt war ein Getto für Leprakranke eingerichtet. Aus Angst vor Ansteckung wurden die Kranke wie Gefangene auf einem Gebiet gehalten, in dem sie einige Felder zu bestellen hatten. Das Gelände war von einer hohen Mauer umgeben. Einer der Kranken fiel immer durch seine ruhige Gelassenheit auf. Man fragte ihn, warum gerade er sein Schicksal so gefasst tragen könne. Er sagte: „Ich weiß, dass die Mauer an einer Stelle ein Loch hat. Da geht von Zeit zu Zeit meine Frau vorbei und wirft einen Blick herein. Ich kann sie zwar nicht sehen, aber mir genügt es zu wissen, dass sie mir immer wieder einen Blick schenkt. Das genügt mir. Davon kann ich leben.“
Von einem lieben Blick eines Menschen kann sehr viel Kraft ausgehen. Von einem Menschen angesehen werden, ja angesehen zu sein, das ist für Menschen beglückend und lebensfördernd.


Immer wieder zeigt dies der Evangelist Lukas in seinen Erzählungen. Für mich ist er ein großer Psychologe des Sehens und des Blicks.
Beim Besuch bei Elisabeth jubelt Maria: „Denn auf die Niedrigkeit seiner Magd hat er geschaut.“ Der Trost einer Geschichte beim Verlust des einzigen Sohnes wird in die Worte gebracht: „Als Jesus die Frau sah, hatte er Mitleid.“
Während es vom Priester und Leviten im Gleichnis vom unter die Räuber Gefallenen heißt: Er sah ihn – und ging vorüber, wird der Blick des Samariters gewürdigt: „Als er ihn sah, hatte er Mitleid und ging zu ihm hin.“ Im Gleichnis vom verlorenen Sohn erzählt er von einem Vater, der sehnsüchtig wartet und seinen Sohn schon von weitem kommen sah. Während die kleinen Leute meist einfach übersehen werden, fällt der Blick Jesu im Tempel gerade auf eine arme Witwe. Und der Blick Jesu nach der Verleugnung geht Petrus durch und durch: „Da wandte sich der Herr um und blickte Petrus an... Und Petrus ging hinaus und weinte bitterlich.“
Auch im heutigen Evangelium wird vom Segen eines gütigen Blicks erzählt. Einer, dem überall signalisiert wird „Geh mir aus den Augen“, zu dem schaut Jesus völlig unerwartet hoch. Und dieser Blick verändert das Leben eines Gauners.
Der Evangelist Lukas wird nicht müde von der Kraft und dem Segen eines gütigen Blicks zu erzählen. Durch diese Erzählungen macht er mir immer neu bewusst: Ein Kind, ein Jugendlicher, der Partner, der Arbeitskollege kann leben, wenn er freundlich und erwartungsvoll angeschaut wird. Ein Mensch erfährt Achtung und Anerkennung, wenn zu ihm in Respekt hochgeschaut wird, egal ob er erfolgreich auf der Karriereleiter steht, schuldig am Boden liegt, als schön beneidet, von Krankheit gezeichnet oder alt und dement ist.

„Mir genügt es zu wissen,“ war die Überzeugung des Leprakranken, „dass sie mir immer wieder einen Blick schenkt. Das genügt mir. Davon kann ich leben.“


Pfarrer Stefan Mai

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