Nicht Flucht nach vorn sondern Weg nach innen

Predigt zum Weltmissionssonntag 2004

Einleitung

Das Institut für Demoskopie Allensbach führte im Jahr 1995 eine interessante Befragung durch. Menschen wurden gefragt, ob sie in den letzten fünf Jahren von irgendjemanden auf den Glauben angesprochen wurden. Immerhin antworteten 42 Prozent der Deutschen mit: Ja.
Auf die weitere Frage, wer sie denn angesprochen habe, sagten allerdings mehr als zwei Drittel: Die Zeugen Jehovas. Katholiken und Protestanten lagen dagegen zusammen unter einem Prozent. Wie passen solche Zahlen zusammen mit den Sonntag, den wir Ende Oktober als katholische Kirche regelmäßig feiern: Den Weltmissionssonntag, den wir heute wieder begehen?

Predigt

Vor einigen Jahren schrieb der Theologe und Nervenarzt Manfred Lütz ein Buch über den Zustand der Kirche mit dem provozierenden Titel „Der blockierte Riese“. Die Kirche, nach wie vor ein Riesenapparat, zeigt erhebliche Lähmungserscheinungen. Die Kirche scheine wie betäubt. Sie kommt wegen ihrer vielen tatsächlichen und eingeredeten Probleme verunsichert, oft mutlos, dazu nörgelnd oder jammernd und sich selbst bemitleidend daher. Der Elan, der Schwung, der Glaube an sich selbst fehlt. Manfred Lütz bringt den Sachverhalt auf den Punkt mit dem Ausspruch: „Ich bin katholisch, aber es soll nicht wieder vorkommen.“
Der Nervenarzt geißelt die Einstellung, dass es zu unserer unbewussten Markenzeichen geworden ist, resigniert, eingeschüchtert und geduckt zu leben. Es gibt ja tatsächlich auch viele Punkte in unserer kirchlichen Vergangenheit und Gegenwart, auf die wir nicht gerade stolz sein können. Und das mürbt so sehr: andauernd auf vermeintliche oder tatsächliche Fehlhaltungen hingewiesen zu werden. Wenn schon nicht mehr das gesehen wird, was Menschen der Kirche an Kraft, gutem Willen, Ideen und Einsatz in unsere Gesellschaft einbringen, dann möchten wir wenigstens nicht auffallen. Wir möchten sein wie alle Welt, nicht anecken, nicht blöd angemacht und in Ruhe gelassen werden.

Die Kirchenleitungen sind sich dieses Problems einer Kirche, die sich zurückzieht, die in die innere Emigration oder in die Resignation geht, bewusst und möchten mit einem alten Begriff neues Selbstbewusstsein schaffen: „Missionarisch leben“. Der Begriff „Mission“ wird als die drängende Aufgabe unserer Kirche neu entdeckt. Zum Jahrtausendwechsel hat Papst Johannes Paul II. betont, dass es „einen neuen Anstoß zur Missionstätigkeit der Kirche“ braucht und sie zu „neuen Ufern aufbrechen“ muss. Innerhalb kurzer Zeit geben die deutschen Bischöfe zwei Arbeitshilfen heraus. Im Jahr 2000 das Wort „Zeit zur Aussaat“, das von der Frage bewegt ist, wie ein missionarisches Kirchesein hierzulande aussehen müsste. Und im September 2004 das Wort „Allen Völkern sein Heil“, das den Horizont auf die Weltkirche hin und den Sinn für die Weltmission fördern möchte. Bewusst soll im Jubiläumsjahr 1250 Jahre nach dem Tod des großen Missionars Bonifatius seine missionarisch Kraft daran erinnern, „dass auch unsere Welt der Glaubensboten und -botinnen bedarf, die weltweit das Evangelium auf so glaubwürdige Weise bezeugen, dass andere es annehmen und als befreiende Wahrheit annehmen können.“ Und Kardinal Lehmann ist überzeugt: „Wer sich wissend und werbend für die Kirche einsetzt, der wird selbst Stärkung im Glauben, in der Hoffnung und Liebe erfahren.“

Ich bin überzeugt, dass unsere Kirche mit dem Evangelium, mit ihrer Glaubenstradition und den Werten, die sie vertritt, unserer Welt und Zeit einen großen Schatz anzubieten hat. Ich bin aber auch überzeugt, dass sie diesen Schatz nur glaubwürdig für unsere Zeit ins Spiel bringen kann, wenn sie den Missionsgedanken nicht als Flucht nach vorn versteht – im Sinne: Angriff ist die beste Verteidigung - sondern in erster Linie als Weg nach innen. Das heißt, wenn sie selbst neu begreift, welchen Schatz sie in sich trägt und aus diesem Schatz lebt. Madeleine Delbrel, die große Missionarin der dreißiger Jahre in Frankreich, die sich als Zwanzigjährige für das Christentum entschied, ist für diese Haltung für mich ein überzeugendes Beispiel. Inmitten einer militant-atheistischen Umgebung in Ivry, dem Armenhaus von Paris, versuchte sie als Sozialarbeiterin, selbst das Evangelium zu entdecken und zu bezeugen. Selbstkritisch meinte sie einmal: „Wir verkünden keine gute Nachricht, weil das Evangelium keine Neuigkeit für uns ist, wir sind daran gewöhnt, es ist für uns eine alte Neuigkeit geworden. Der lebendige Gott ist kein umwerfendes Glück mehr... Wir geben uns keine Rechenschaft darüber, was Gottes Abwesenheit für uns wäre; so können wir uns auch nicht vorstellen, was sie für die anderen ist. Wenn wir von Gott reden, bereden wir eine Idee, statt eine erhaltene weitergeschenkte Liebe zu bezeugen. Wir können den Ungläubigen unseren Glauben nicht als Befreiung von der Sinnlosigkeit einer Welt ohne Gott verkünden, weil wir diese Sinnlosigkeit gar nicht wahrnehmen. Wir verkünden Gott wie unser Eigentum, wir verkünden ihn nicht wie das Leben allen Lebens...“
Keinerlei Gejammer über die vermeintlich bösen Zeiten oder gottlosen Menschen. Vielmehr die Gewissheit, einen Schatz empfangen zu haben, für den es in dieser Welt keine bessere Alternative gibt. Daraus erwuchs ihr Selbst- und Sendungsbewusstsein, das zugleich mutig und demütig ist, bescheiden und offensiv. An ihrem Beispiel lerne ich: Nur wenn ein Mensch an sich selbst das Evangelium als Neuigkeit begreift und selbst erahnt, was ihm fehlen würde, wenn er nicht an Gott glauben dürfte, nur dann ist er auch bereit, den Glauben andern vorzuschlagen und Gottes Gegenwart in dieser Welt durch seine armen Worte und kleinen Werke zu bezeugen, missionarisch glaubwürdig zu sein.


Pfarrer Stefan Mai

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