Der Traum der bunten Blätter

Meditation zum Frauengottesdienst am 14.10.2004

Die Tage werden kühler.
Die Nächte werden länger.
Die Sonnenstunden kürzer.
Der Wind frischer.
Der Tau stärker.
Alles Anzeichen: Der Sommer ist zu Ende gegangen, der Herbst ins Land gezogen. Fast alle Felder sind abgeerntet, frisch geackert oder schon wieder neu besät. Wachstum ist kein großes mehr da. Die Natur bereitet sich auf den Winterschlaf, auf´s Absterben vor.

Und gerade in diesem Prozess fasziniert mich immer wieder das Schauspiel der Natur. Bevor Bäume und Sträucher ihre Blätter verlieren, beginnen sie noch einmal vom Leben zu träumen. Sie werden noch einmal farbig und bunt. In dem Moment, in dem sie nicht mehr im Saft stehen, pulvern sie noch einmal alle Kräfte in die Farben, investieren noch einmal ihr Herzblut, so als ob sie noch einmal ein fulminantes Feuerwerk des Lebens abfeuern.

Dieses Naturschauspiel ist für mich ein ganz starkes Bild für unser menschliches Leben, für die tiefe Sehnsucht, die in uns steckt. Auch wir möchten Farbe ins Leben bringen, aus unserem Leben – ist es noch so normal und banal – etwas besonderes machen.
Gestern las ich einen Satz des griechischen Filmregisseur Theo Angelopoulos, der mich nachdenklich gemacht hat. Er lautet: „Jeder Mensch will aus der Stoffsammlung seines Lebens Poesie schaffen – und sei sie noch so erbärmlich.“ Der Mensch träumt von Schönheit, Farbe, Kostbarkeit, dichten Momenten, von Ergriffenheit und möchte nicht nur aufzählen dürfen, was er gehabt, getan und für was er gesorgt hat. Er träumt nicht nur von einem angefüllten sondern von einem erfüllten Leben, von einem Leben mit einer besonderen Überschrift, mit einer besonderen Note.

Die roten und gelben Blätter in der absterbenden Natur führen mir gerade in den Herbsttagen diesen Traum vor Augen: „Jeder Mensch will aus der Stoffsammlung seines Lebens Poesie schaffen – und sei sie noch so erbärmlich.“


Pfarrer Stefan Mai

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