Schneiden, Pressen, Stampfen, Mahlen, Knacken...

Predigt zum Erntedankfest 2004

Obwohl kaum ein Mensch heute noch mit der wirklichen Ernte zu tun hat und wenig Ahnung mehr davon hat, ziehen komischerweise die prachtvollen Erntewägen der Erntedankumzüge Massen von Menschen an und für viele ist es ein Schmaus für die Augen, wenn die geernteten Früchte in meisterhaften Arrangements vor den Altären unserer Kirchen aufgebaut sind. Da kehrt ein Zauber von Romantik in unsere technische Welt ein.
In der biblischen Welt hat Ernte nichts mit Romantik zu tun. In der biblischen Welt ist Ernte immer ein Bild für das Gericht. Das hängt sicher damit zusammen, dass Ernte ein rabiater Vorgang ist: Da wird abgemäht, ausgerissen, abgeschnitten. Da wird ausgedroschen, da wird gepresst, da wird geknackt, da kracht und staubt es. Und was mit den Früchten dann geschieht, weiß jeder: Das Leben eines Kornes ist nicht in Watte gepackt. Es wird hart her genommen. Zur Saat wird es in den Dreck geschmissen, sozusagen beerdigt. Zur Mehlgewinnung wird es zerstampft, durch die Mühle gejagt, zerquetscht, zermalmt. Zum Leben eines Kornes gehört es, dass es hart angepackt wird, ja eigentlich vernichtet wird. Auch den anderen Früchten geht es nicht besser. Die Traube wird zerquetscht und gepresst, dass ihr die Haut platzt und sie ausblutet. Die Karotte, der Kohlrabi wird zerhackt, die Nuss wird geknackt, das Kraut wird gehobelt. Viele Früchte werden weich gekocht und zerstampft. Rabiate Vorgänge. Ja, das Leben der geernteten Früchte ist nicht in Watte gepackt.

Wir Menschen aber sehnen uns nach einem Leben, das in Watte gepackt ist. Aber nicht erst in Krisen und Krankheit, im Leiden und Sterben erfahren wir, dass diese Sehnsucht illusorisch ist. Wir erfahren bald, wie zermürbend die Tretmühle des Alltags sein kann. Jeder weiß, wie hart es ist, zwischen die Mühlsteine von vielen Erwartungen zu geraten. Jeder kennt die Stunden, in denen er sich wie eine ausgepresste Zitrone vorkommt und von Sorgen schier erdrückt wird. Viele können ein Lied davon singen, welcher Druck auf ihnen lastet. Und jeder muss es früher oder später am eigenen Leib erfahren, wie er körperlich und geistig abbaut und zerbrochen wird.
Man kann sich fragen: Warum ist das Leben so angelegt? Warum lässt sich das schwere, harte nicht einfach ausblenden? Warum gibt es kein Leben in Watte?
Ein Blick auf das Schicksal der Früchte sagt mir. Durch die harten Vorgänge werden die Früchte oft verwandelt: Aus dem Korn wird beim Mahlen Mehl, aus dem Apfel, der Traube wird durch das Pressen Saft und Wein. Um zum eigentlichen Kern zu kommen, muss die Nuss geknackt werden. Durch das Zerschneiden und Erhitzen werden die Früchte oft erst für den Menschen genießbar.
Ich frage mich: Werden bei uns Menschen nicht auch oft durch harte Prozesse Verwandlungen eingeleitet und gehen wir daraus nicht manchmal anders hervor? Wie die Früchte bei ihrer Vernichtung für andere zum Leben beitragen, so möchte ich glauben können, dass meine Lebenssubstanz ,meine Güte, die ich investiere, meine Überlegungen, die ich anstelle, meine Kraft, die ich einsetze, meine Sorgen, die ich mir um andere mache, dass diese Lebenssubstanz für unsere Welt, für Menschen, für die ich da sein wollte, nicht verloren ist, wenn sie vernichtet wird.


Pfarrer Stefan Mai

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