Suchen und gefunden werden

Predigt zum 24. Sonntag im Jahreskreis (Lk 15,11-32)

Einleitung

Der Weg ist das Ziel. Wie oft wird dieser Satz schwelgend zitiert. Ich mag diesen Satz aber nicht. Ich möchte nicht dauernd nur unterwegs sein. Ich möchte auch einmal ankommen. Der Weg mag noch so aufregend sein, aber ohne Ziel verliert er seine entscheidende Dimension. Ankommen und erwartet werden, ist nicht das eigentlich erst die Krönung eines Weges?

Predigt

Der Vogel ist ein Rabe, so heißt der Titel des Buches, das der 1982 geborene Benjamin Lebert vor zwei Jahren schrieb. Das Buch ist ein Gemälde des Lebensgefühls heutiger junger Menschen und beginnt mit folgendem Abschnitt:
„Das Abitur machte ich in München. Danach, mit zwanzig, zog ich nach Berlin, um Ethnologie zu studieren. Ich wohnte dort in einer Wohngemeinschaft in Schöneberg, zusammen mit zwei weiteren Studenten. Ein Junge namens Randall. Und ein Mädchen namens Sofia. Ich verbrachte kaum Zeit mit studieren. Mir war alles ziemlich egal. Ich lief durch die Stadt. Ich ging in Cafes und Clubs. Ich begegnete Leuten, die das Gleiche taten. Die meisten von ihnen waren auch von irgendwoher nach Berlin gekommen. Eigentlich alle. Und alle wollten hier von irgendetwas gefunden werden. Natürlich wussten sie, dass sie auch selbst suchen gehen mussten. Und das taten sie teilweise. Aber sie wollten vor allem gefunden werden.“

Zwei Sätze aus dieser Bucheinleitung bleiben vor allem bei mir hängen: Natürlich wussten sie, dass sie auch selbst suchen gehen mussten. Aber sie wollten vor allem gefunden werden.

Das heutige Evangelium erzählt von einem, der spürt, dass er suchen muss. In der Hoffnung, nicht gelebt zu werden sondern das Leben zu finden, bricht er auf. Tragisch: Einer der sich aufmacht, um zu suchen, verliert sich. „Man hat oft so eine Sehnsucht in sich – aber dann kehrt man zurück mit gebrochenen Flügeln, und das Leben geht weiter, als wäre man nie dabei gewesen.“ So umschreibt Ödön von Horvath das Lebensgefühl eines gescheiterten Suchers.

Die Geschichte vom verlorenen Sohn erzählt aber auch von einem, der daheim an den gescheiterten Sucher glaubt und mit dem einprägsamen Satz vor seinen Dienern und vor dem sturen älteren Sohn die unerwartete Heimkehr des verloren Geglaubten kommentiert: „Dieser mein Sohn/dieser dein Bruder war tot und lebt wieder, er war verloren und ist wieder gefunden worden.“
Natürlich wusste er, dass auch er selbst suchen gehen musste. Aber er wollte vor allem gefunden werden. Mit diesen Sätzen von Benjamin Lebert lässt sich die Quintessenz unserer meisterhaften Erzählung umschreiben. Und in diese zwei Sätze lässt sich eine große unstillbare Sehnsucht von uns Menschen eingefangen.

Immer wieder erfahren das Menschen in ihrem Leben:
Kinder entwickeln sich nur dann gesund und bekommen festen Boden unter den Füßen, wenn sie Zuneigung ihrer Eltern nicht suchen müssen. Sie sehnen sich danach, von ihren Eltern gefunden zu werden. Das gibt ihnen das Grundvertrauen ins Leben.
Jung Verliebte – und davon bin ich überzeugt: auch lang Verheiratete –wollen nicht nur einen lieben Menschen suchen und ihn mit der eigenen Tüchtigkeit und Liebenswürdigkeit überzeugen. Nein! Sie wollen vor allem vorbehaltlos vom anderen gefunden werden.
Ein junger Mensch, der im Blick auf eine sinnerfüllte Zukunft eine Arbeit sucht, weiß, dass er selbst gehen muss, aber er träumt zugleich davon, von einer Aufgabe gefunden zu werden, die ihm Erfüllung im Leben schenkt.
Ein gläubiger Mensch erlebt nicht in erster Linie das Glück, die Geborgenheit und den Trost des Glaubens, wenn er nur sucht, sondern wenn er das Gefühl hat, Gott hat mich schon längst gefunden.

Natürlich wussten sie, dass sie auch selbst suchen gehen mussten. Aber sie wollten vor allem gefunden werden.

Fürbitten

Gott, in seiner Geschichte vom verlorenen Sohn erzählt Jesus von einem Menschen, der von dir gefunden wird. Wir bitten dich:

Für alle Menschen, die ihre Heimat, ihren Beruf und sicher geglaubte Beziehungen verloren haben

V/A: 358/3

Für die Menschen, die alle Achtung vor sich selbst und die Anerkennung bei ihren Mitmenschen verloren haben

V/A: 358/3

Für alle Jugendlichen, die keine Freude am Leben empfinden und sich auf dieser Welt verloren vorkommen

V/A: 358/3

Für alle Menschen, die sich in Sackgassen verrannt oder in Nebensächlichkeiten verloren haben

V/A: 358/3

Für alle Menschen, die glauben, mit dem Tod in eine gähnende Leere zu fallen

V/A: 358/3

Darum bitten wir durch Christus unsern Herrn. Amen


Pfarrer Stefan Mai

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