Ein neuer Sklavenmarkt?

Predigt zum 23. Sonntag im Jahreskreis (Phlm 9b-10.12-17)

Einleitung

Es mag überraschend klingen, aber es ist so: Die ältesten Schriften des NT sind nicht die Evangelien, sondern die Briefe, die der Missionar Paulus an christliche Gemeinden oder an eine Einzelperson schrieb. Diese Briefe sind nicht in erster Linie theologische Abhandlungen oder Katechismusstunden. Wir erfahren vielmehr von Problemen in den jungen christlichen Gemeinden und gesellschaftlichen Fragen, auf die Christen eine Antwort geben mussten. Die Briefe des Paulus ringen um konkrete Lösungen für zeitbedingte Fragen. Und doch stellen sie ganz überraschend Anfragen an Menschen, die viele Jahrhunderte später leben. Ich denke, das wird uns heute bewusst, wenn wir als Lesung den kürzesten und persönlichsten Brief des Paulus hören. Es ist der Brief an Philemon – und es geht um einen entlaufenen Sklaven.

Predigt

Onesimus heißt er, der waghalsige Sklave, der seinem Herrn Philemon wegläuft und vielleicht sogar etwas mitgehen hat lassen. Er flüchtet zu Paulus, der gerade im Gefängnis von Ephesus sitzt, und sucht bei ihm Schutz und Unterstützung vor der wütenden Herrschaft. Wahrscheinlich hat Onesimus Paulus gekannt, da dieser sich manchmal im Haus des reichen Christen Philemon aufgehalten hat, ja vielleicht sogar zu den Freunden Philemons gehörte. Er flüchtet zu Paulus, da er dessen revolutionäre Predigten kannte: „Es gibt nicht mehr Juden und Griechen, nicht Sklaven und Freie, nicht Mann und Frau; denn ihr seid alle einer in Christus.“ (Gal 3,27f) Er flüchtet zu einem Mann, der selbst in Ketten liegt und hofft darauf, dass dieser deshalb einen verzweifelten Sklaven verstehen kann. Onesimus hofft auf Unterstützung durch die Autorität des Paulus.

Doch Paulus schickt ihn nach einiger Zeit wieder zu seinen Herrn zurück. Paulus prangert nicht die Sklaverei unter den Christen an, und zettelt zu unserer Enttäuschung auch keinen Kampf gegen diese menschen-verachtende Einrichtung an. Er geht einen unspektakulären Weg. Er solidarisiert sich ganz mit dem entlaufenen Sklaven. Er nennt ihn sein „Kind“, für das er bittet, denn er ist ihm durch die Taufe zum geistlichen Vater geworden. Onesimus ist ihm lieb geworden wie sein eigenes Herz. „Nimm ihn auf, so wie mich selbst“, bittet er Philemon und hofft auf eine Auflösung der unmenschlichen Abhängigkeitsverhältnisse von innen her durch eine neue Qualität der Beziehung. Er hofft darauf, dass das Wissen um die Würde des Getauftseins auch einen anderen Umgangsstil ermöglicht und aufräumt mit der Einstufung eines Sklaven als Besitz.

Wir sind heute weiter als Paulus – so meinen wir jedenfalls – denn seit dem 19. Jahrhundert ist die Sklaverei offiziell abgeschafft. Aber ich frage mich. Sind damit wirklich die sklavischen Abhängigkeitsmuster verschwunden oder haben sie sich verdeckt in ganz neue Dimensionen entwickelt?
Der Sklave des Philemonbriefes trug einen häufigen Sklavennamen: Onesimus. Der Name ist verräterisch. Denn aus dem Griechischen wörtlich übersetzt bedeutet er: Herr „Brauchbar“ oder Herr „Nützlich“. Das macht mich stutzig. Wenn ich richtig empfinde schreitet doch in den modernen Gesellschaften Europas und Amerikas ein Denken mit atemberaubender Geschwindigkeit fort und macht auch vor dem Menschen nicht halt: Das Nützlichkeitsdenken, die Einstufung nach Brauchbarkeit und Nutzwert. Offiziell gibt es keine Sklaven mehr. Aber haben wir nicht bemerkt, dass ein neuer schwarzer Sklavenmarkt immer mehr Blüten treibt. Was soll das anders sein, wenn das neue Zauberwort „Marktwert“ heißt, wenn der Wert eines Menschen in der Wirtschaft nach dem Nutzwert, nach dem was er bringt, eingestuft wird. Was soll das anders sein, auch wenn sie Millionen verdienen, wenn der Marktwert eines Spitzenfußballers festgelegt wird und in Transfersummen in Millionenhöhe hinausposaunt wird. Was soll das anders sein, wenn ihrem Marktwert entsprechend Professoren und Manager nach ihren Leistungen, Publikationen und Beliebtheit in einer Reihe aufgelistet werden. „Ranking“ nennt man das neudeutsch. Ein grobes Muster für eine Durchnummerierung der Weltbevölkerung ihrem Marktwert nach haben wir schon. Dass der Vorstand einer Bank in Europa einen hohen Marktwert hat und der Bewohner eines afrikanischen Dorfes praktisch keinen, das wissen wir auch. Dass nicht nur am Arbeitsplatz, sondern auch in Vereinen, in menschlichen Beziehungen, in sozialen und kirchlichen Strukturen die Gefahr besteht, dass der Mensch nach dem Nutzen eingestuft wird und für die Institution funktioniert und etwas bringt, das machen wir uns zu wenig bewusst. Dass politische Eliten kaum noch etwas anderes wagen, als dem Markt aufs Maul zu schauen, und ausführen, was er vorschreibt, diesem Eindruck kann man sich schon lange nicht erwehren. Hut ab vor einem alten kranken Papst, der es noch wagt, die neue „Weltreligion“ Markt und die Herabwürdigung des homo sapiens zur Ware als tödliche Bedrohung unserer Zeit zu brandmarken.

Man mag über Paulus enttäuscht sein, weil er nicht strukturell und grundsätzlich gegen die Sklaverei vorgeht. Aber er propagiert ein Menschenbild, das den Menschen als Person ernst nimmt und nicht von ihm in den Kategorien von Nützlichkeit und Brauchbarkeit denkt.

Bleibt nicht auch heute einzig und allein der Weg des Paulus, an meinem Ort von innen her aus dem Bewusstsein: vor Gott sind alle Menschen gleich und haben vor ihm dieselbe Würde den Menschen einem wirtschaftlichen Kalküldenken zu entreißen. Vielleicht entscheiden sich nachfolgende Generationen einmal anders als die gegenwärtig Marktgläubigen. Vielleicht entscheiden sie sich, diese marktwertgeprägte Welt, die sie vorfinden, nicht mehr zu akzeptieren und schon gar nicht mehr zu stützen. Vielleicht entdecken sie wieder im Mitmenschen mehr den Nächsten und nicht den Konkurrenten, vielleicht denken sie die großen Worte Lebenswert und Lebenssinn viel mehr von menschenfreundlichen Beziehungen her als vom Diktat des Marktwerts. Das wäre der eigentliche Fortschritt, auf den wir stolz sein könnten.


Fürbitten

Gott, vor dir hat ein jeder Mensch, egal welchen Alters, Rasse und Standes die gleiche Würde. Wir bitten dich:

Für alle Menschen, die innerlich unfrei sind und diktiert werden von Erwartungen, Ansprüchen und großen Druck, der auf sie ausgeübt wird.

Für alle, deren Marktwert in unserer Gesellschaft ins Bodenlose gefallen ist: für die Invaliden, die Kranken, die armen Alten, die Minderqualifizierten, die Arbeitslosen und Gescheiterten.

Für alle führenden Köpfe in der Wirtschaft und Politik, die klar die Gefahren einer entfesselten Marktwirtschaft sehen und sich mit der immer größer werdenden Schere zwischen arm und reich nicht abfinden wollen.

Für alle, die Abhängigkeitsverhältnisse zu ihren Gunsten schamlos ausnutzen und die freie Selbstentfaltung von Menschen behindern.

Für alle Kinder, Frauen und Männer, die unter der Knute des Terrors in Angst vergehen oder sogar ihr Leben lassen müssen.

Darum bitten wir durch Christus unsern Herrn.


Pfarrer Stefan Mai

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