Wozu leben?

Predigt zum 18. Sonntag im Jahreskreis (Koh 1,2; 2,21-23)

Zu den Festen im spanischen Valencia gehört eine merkwürdige Tradition, die ihren Ursprung in der alten Bruderschaft der Zimmerleute hat.
Das ganze Jahr hindurch bauen Handwerker und Künstler riesige Holzskulpturen. In der Woche der Feria stellen sie diese Holzskulpturen auf dem Hauptplatz der Stadt auf, zur Freude der Passanten. Doch am Tag des heiligen Joseph werden alle Skulpturen – bis auf eine – in einem riesigen Feuer vor Tausenden von Zuschauern verbrannt.
„Wie sinnlos? Wozu die ganze Arbeit?“, fragte ein englischer Tourist, als er die Flammen zum Himmel aufsteigen sah.
Ähnliche Gedanken bewegen einen weisen Mann, der viel über das Leben nachgegrübelt hat und den die Bibel Kohelet nennt: „Was hat denn der Mensch von all seinem Mühen und Denken und Grübeln? Was hat er davon, wenn er sich über etwas freut, das er sich erarbeitet hat. Er darf’s doch nicht genießen. Alles ist doch nur Windhauch.“
Ähnlich mag auch einer heute denken, wenn er sich angestrengt hat, und dann war scheinbar doch alles umsonst. So mag einer denken, der sich mit Mühe und Sachverstand etwas aufgebaut hat und hofft, dass seine Kinder darauf weiterbauen – und dann geht doch alles in fremde Hände. So mag einer denken, der viel für sein Berufsziel investiert hat und an seinem Beruf Freude hatte und dann entwickelt sich die Zeit ganz anders und sein Beruf wird nicht mehr von der Gesellschaft gebraucht. So denkt sicherlich auch manche Ordensfrau, die ihre gesamte Lebensenergie für die Ziele ihres Ordens eingesetzt hat und sich eingestehen muss, dass auch ohne ihren Orden diese Ziele einmal weiterleben werden. „Windhauch, Windhauch, das alles ist Windhauch“, sagte Kohelet. Wie realitätsnah sind diese Gedanken.

„Wie sinnlos? Wozu die ganze Arbeit?“, fragte der Tourist, als er die Flammen zum Himmel aufsteigen sah.
Ein Spanier, der diese Frage hörte, antwortete ihm: „Auch du wirst eines Tages enden. Glaubst du, dass ein Engel, wenn dieser Tag gekommen ist, Gott fragen wird: „Wozu die ganze Arbeit?“

Liebe Leser,
daran möchte ich glauben können: dass nicht alles, worum ich mich bemüht habe, wofür ich mich eingesetzt und Kräfte investiert habe, was ich hinterlasse nicht einfach ein sinnloses Geschäft war, auch wenn viel davon vergänglich und hinfällig sein wird.
Ich möchte an den Sinn meines Lebenseinsatzes und meines schöpferischen Tuns glauben, weil ich daran glaube, dass Gott selbst an den Sinn der Investition in uns Menschen glaubt, obwohl er genau weiß, wie klein, wie hinfällig, wie vergänglich wir alle sind.


Pfarrer Stefan Mai

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