Ich danke dir für diese Lektion

Predigt zum 17.Sonntag im Jahreskreis (Lk 11,1-13)

Ich kann mir nicht vorstellen, dass die Freunde Jesu wirklich nicht beten konnten. Das waren doch alle fromme Juden, die in der Tradition ihres Volkes aufgewachsen sind, die das A, B, C des Judentums kannten: die Speisevorschriften, die heiligen Schriften, die Gebete ihres Volkes. Und ganz bestimmt haben sie täglich ihr „Höre Israel“ rezitiert, wahrscheinlich wie jeder fromme Jude dabei die Gebetsriemen angelegt. Sie haben am Sabbat den Gottesdienst in der Synagoge besucht, dabei Worte aus der Tora gehört und ihre Psalmen gemurmelt. Warum dann diese Bitte: „Herr, lehre uns beten!“?
Der Evangelist Lukas nennt uns den Grund: Die Jünger sehen Jesus beten und sind von seiner Art zu beten so beeindruckt, dass sie diese von ihm lernen möchten. Jesus erfindet kein neues Gebet. Er empfiehlt keine besondere Meditationstechniken. Er greift auf den Gebetsschatz seines Volkes zurück, auf das jüdische Achtzehngebet und formuliert in Anlehnung an dieses Gebet fünf Bitten. Das ist nichts aufregend Neues. Aber die Haltung beeindruckt, in der er betet. Und sie wird noch deutlicher durch das Gleichnis vom bittenden Freund, das er sofort im Anschluss an das „Vater unser“ erzählt und das im Satz gipfelt: „Wer bittet, der empfängt; wer sucht, der findet, und wer anklopft, dem wird geöffnet.“ Das Gebet Jesu wird von einem fast unverschämten Gottvertrauen getragen, das sich durch nichts beirren lässt. Und nach einer solchen Haltung sehnen sich die Jünger. Eigentlich ist das die Gebetslektion, die sie von Jesus erhalten.

Aber gerade diese Haltung ist nicht einfach erlernbar. Oft ist sie gerade Menschen geschenkt, denen man sie nicht zutraut. Der brasilianische Schriftsteller Paolo Coelho erzählt von frommen Juden, die sich zum Gebet in der Synagoge versammelt hatten. Während sie beteten erklang die Stimme eines Kindes: A, B, C, D. Die betenden Männer versuchten, sich auf die Heilige Schrift zu konzentrieren, doch die Kinderstimme wiederholte: A, B, C, D. Sie unterbrachen den Gottesdienst, und als sie um sich blickten, sahen sie einen Jungen, der noch immer sein Lied sang.
Der Rabbiner fragte den Jungen: „Warum tust du das?“ „Weil ich die heiligen Verse nicht kann“, sagte der Junge. „Deshalb hoffe ich, indem ich das Alphabet singe, dass Gott die Buchstaben benutzen wird, um die richtigen Worte zu bilden.“
„Ich danke dir für diese Lektion“, sagte der Rabbiner. „Möge auch ich fähig sein, Gott meine Tage auf seiner Erde genauso anzuvertrauen, wie du ihm deine Buchstaben anvertraut hast.“


Pfarrer Stefan Mai

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