Lieben können – welche Erlösung!

Predigt zum 15.Sonntag im Jahreskreis (Lk 10,25-37)

Ein Vater erzählt: Kürzlich saß ich mit meiner siebenjährigen Tochter am Frühstückstisch. Von ihrer Gruppenleiterin hatte sie eine Malvorlage bekommen, auf der sie für jede „Tat“ der Liebe“ ein Bildmotiv ausmalen durfte. Ich war halb in meine Zeitung vertieft. Sie sprach darüber, wie gerne sie möglichst schnell alles auf dem Blatt bunt anmalen würde. Dann musste ich aber aufhorchen und die Zeitung sinken lassen. Denn wortwörtlich sagte sie: „Eigentlich bin ich doch zur Liebe begabt, aber ich weiß nicht, was ich als nächstes tun soll.“(Christ in der Gegenwart, Nr. 28/04, S.226)

„Eigentlich bin ich doch zur Liebe begabt, aber ich weiß nicht, was ich als nächstes tun soll.“ Menschen Gutes tun, meinen Mitmenschen lieben, meint dieses Kind, ist mir nicht als bitter schmeckende Pflichtübung auferlegt, sondern entspricht meinem Wesen. Deinen Nächsten lieben wie dich selbst ist nicht ein aufoktroiertes Muss, ist keine schwer erdrückende Pflicht, ist nicht gegen meine Natur. Das Gebot der Liebe ist kein fernes, fremdes und schwieriges Gebot. Es geht nicht über unsere Kraft, es ist uns nahe und wir können gut damit leben. „Etwas lieben können – welche Erlösung!“, sagt Hermann Hesse.

Wenn das stimmt, dann wäre es unsere Aufgabe, diesen Reichtum in uns erst selbst zu entdecken, zur Entfaltung zu bringen, was in uns angelegt ist, dieses „Talent zu lieben“ zu pflegen und zu entwickeln. Wenn uns dies gelingt, dann wird unser Herz menschlich, unsere Seele weit, unser Denken stark. Und erst dann kommen all unsere Kräfte, die in uns liegen zur Wirkung. „Etwas lieben können – welche Erlösung!“
Wunderschöne Gedanken, können Sie sagen, die gehen wie Balsam über die Seele. Aber warum gelingt es so oft nicht, lieben zu können, den Nächsten annehmen zu können, wie es in der berühmten Samariter-geschichte erzählt wird? Wenn lieben können eine Ur-Begabung in uns Menschen ist, warum kommt diese dann so oft nicht in den alltäglichen Begegnungen zum Tragen. Warum fällt es uns dann oft so schwer, sie zu üben und zu entfalten?

Wenn ich auf den Priester und den Levit unserer Erzählung schaue, behaupte ich: Es ist die Angst, welche die Begabung zur Liebe blockiert. Der Priester und der Levit haben Angst, dass auf dieser gefährlichen Blutsteige, wie der Weg von Jerusalem nach Jericho genannt wird, der Überfall nur vorgetäuscht wird und dann zugeschlagen wird, wenn sie sich dem hilflos Daliegenden zuwenden. Nicht Unmenschlichkeit oder Gefühllosigkeit blockiert sie, sondern die Angst. Angst verhindert so viel Kreativität, so viel Wohlwollen, so viel guten Willen, so viel Menschlich-keit. „Was würdest du alles tun, wenn du keine Angst hättest?“ – diese Frage wird in einem Managerbuch gestellt. Und ich spüre, dass auch viel Potential von Liebe auf der Strecke bleibt, weil das Gift der Angst Menschenherzen lähmt, wenn sie den Anruf zur Nächstenliebe spüren.
Da würde einer vielmehr sein gutes Herz zeigen, wenn er nicht die Angst hätte, er wird nur ausgenutzt oder vereinnahmt.
Da würde eine ihrer hilfsbedürftigen Nachbarin beistehen, wenn sie nicht die Angst hätte, deren Kinder schauen sich dann noch weniger um sie um.
Da würde einer so gern einem Mädchen, das ihn fasziniert, zeigen, dass er sie lieb hat, wenn er nicht die Angst hätte, sie lässt ihn abblitzen.
Da würde einer sich entschieden auf die Seite eines Arbeitskollegen stellen, der andauernd von den andern geschnitten oder verlacht wird, wenn er nicht die Angst hätte, dass auch er dadurch in die Außenseiter-rolle gerät.
Da würden Eltern gerne ihrer Tochter in einem Problem einen Ratschlag erteilen und ihre Hilfe anbieten, wenn sie nicht die Angst hätten, sie empfindet dies als Einmischung in ihre Angelegenheiten.
Wie viel Gutes bleibt ungetan, wie viel Hilfe wird nicht geleistet, weil die Angst blockiert?

Liebe Leser! „Etwas lieben können – welche Erlösung!“ sagt Hermann Hesse. Der erste Johannesbrief meint: „Furcht gib es in der Liebe nicht ... wer sich fürchtet, dessen Liebe ist nicht vollendet!“ (1 Joh 4,18)


Pfarrer Stefan Mai

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