Eine Geschichte zum Weinen

Predigt zum 11.Sonntag im Jahreskreis (Lk 7,36-50)

Einleitung

Manchmal passiert es einfach: Erinnerungen, die aufsteigen, eine besondere Szene in einem Film, ein Wort aus einem Buch, das mir nahe geht, berühren mich plötzlich zutiefst. Und ohne es zu wollen steigen Tränen in mir hoch. Und ich bin emotional ungeheuer ergriffen. Und ich spüre jedes Mal: Das sind dichte Momente des Lebens.
Heute begegnet uns Jesus als ein im wahrsten Sinn des Wortes „berührter“ Mensch. Das tut nicht nur ihm gut. Sondern es geht zugleich eine heilende Kraft von ihm aus.

Predigt

Für ihr erstes publiziertes Bilderbuch „Paolos Glück“ erhielt die junge Schweizer Grafikerin Sandra Luchsinger den Schweizer Bilderbuchpreis 2003. Das Bilderbuch erzählt von Paolo. Paolo Piangino war ein sehr glücklicher Mann. Er liebte den Stadtpark, von oben auf der Schaukel oder auch von unten, wenn er im Gras lag und in den Himmel oder auf die Kronen der Bäume schaute. Er konnte bei fröhlicher Musik weinen und vergoss Tränen bei trauriger Musik. Er musste bei Geschichten mit glücklichem Ende weinen und bei Geschichten mit einem traurigen Ende. Einmal war das Ende so traurig, dass Paolo Piangino mitten im Cafe die Tränen über die Wangen liefen. Und das Wundersame! Wenn Paolos Tränen auf den Boden flossen, begannen wunderschöne Blumen zu sprießen. Die Leute trauten ihren Augen nicht, als sie die roten Blumen wachsen sahen. Sie erzählten allen, die es nicht gesehen hatten, und diese erzählten es allen, die es noch nicht wussten. Wo Paolo Piangino vorbeikam, blühte die Stadt auf und der Duft der Blumen machte die Menschen glücklich. Und die Menschen der Stadt schnitten die Blumen ab, stellten sie in ihre Wohnung, gruben sie aus und stellten sie in Pflanzkübel vor ihre Häuser.
Paolo Piangino blieb immer weniger Zeit für sich und seine Geschichten. Ging er in den Park, wurde er dort schon erwartet. Er beschloss, ein paar Tage zu Hause zu bleiben. Er hoffte, die Leute würden ihn ein wenig vergessen. Aber die Blumen begannen zu welken. Mit ihrem Duft schwand auch die Lebensfreude der Menschen. Einige versuchten zu retten, was noch zu retten war. Andere blieben zu Hause und hofften auf bessere Zeiten. Die Menschen wurden immer trauriger. Die Stadt war bald menschenleer und sah so jämmerlich aus, dass der Präsident seinen Berater herbeirief. Sie beschlossen, Paolo Piangino zum Blumenkönig zu ernennen. Ein Freudenschrei ging durchs Publikum, als Paolo Piangino vor Rührung Tränen vergoss. Von nun an konnte Paolo Piangino nicht einmal zu Hause allein sein. In der folgenden Nacht, als alle Fotografen tief und fest schliefen, stach er in See. Die Leute versuchten ihn verzweifelt, aber sie konnten ihn nirgendwo finden. Da fingen sie ganz bitterlich zu weinen an. Aber plötzlich, an der Stelle, an der ihre Tränen auf den Boden fielen, begannen wunderschöne Blumen zu sprießen.

Eine tiefsinnige Geschichte. Sie will deutlich machen: Die Welt ist ärmer ohne Gefühle. Ohne Gefühle ist sie grauer und kälter. Gefühle bringen Farbe und Wärme in die Welt. Aber sie macht auch klar: Gefühle sind manchmal auch schmerzlich und wirken auf andere bisweilen sonderbar. Und sie betont: Auf Dauer kann ich nicht von Gefühlen anderer leben und profitieren. Um Leben mit Leben zu erfüllen, muss ich mir selbst Gefühle “leisten“. Das bedeutet, mich auf Freudiges und Schmerzliches einlassen. Ich kann und darf dabei nicht Zuschauer bleiben, der vom Schmerz und der Freude anderer lebt. Ohne Gefühle sind wir wie „tot“ und zerstören selbstsüchtig das Schöne in der Welt.

Im heutigen Evangelium ist Jesus im Haus des gelehrten Pharisäers Simon eingeladen. Es ist zwar ein Gastmahl vorbereitet. Man macht es sich gemütlich am Tisch. Aber irgendwie herrscht Eiseskälte: Höflich, vornehm, steril. Offenbar ist der Gelehrte neugierig auf Jesu Geisteskraft und will den „Rabbi“ aus Nazaret testen. Aber plötzlich platzt in diese Männergesellschaftsszene eine stadtbekannte Sünderin mit ihren Emotionen hinein, berührt Jesus und bricht in Tränen aus. Und der Duft des Öls und das Weinen der Frau verändern die Atmosphäre im Raum. Statt sich gegenseitig abzutasten, intellektuell die Kräfte zu messen und sich dann rangmäßig einzuordnen, herrschen plötzlich andere Wertemuster in diesem Raum. Da ziehen Emotionen ein. Plötzlich gewinnen Ergriffenheit und Beziehungskategorien die Oberhand über intellektuelle Männer-Machtspielchen. Und Jesus ergreift eindeutig Partei: „Simon, siehst du diese Frau? Als ich in dein Haus kam, hast du mir kein Wasser zum Waschen der Füße gegeben; sie aber hat ihre Tränen über meinen Füßen vergossen und sie mit ihrem Haar abgetrocknet. Du hast mir zur Begrüßung keinen Kuss gegeben, aber sie hat mir, seit ich hier bin, unaufhörlich die Füße geküsst. Du hast mir nicht das Haar mit Öl gesalbt; sie aber hat mir mit ihrem wohlriechenden Öl die Füße gesalbt.“ (Lk 7,44-46)

Liebe Leser! Um Leben mit Leben zu erfüllen, muss ich mir selbst Gefühle “leisten“. Die Theologin Dorothee Sölle schreibt einmal: „Noch haben wir nicht gelernt umzukehren / noch weinen wir selten / noch.“


Pfarrer Stefan Mai

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