Wort am St. Josef-Krankenhaus

Fronleichnamsprozession 2004

„Ach, die Fronleichnamsprozession ist lange nicht mehr so schön wie früher“, meinte vor einigen Tagen eine alte Frau. „Wie feierlich das einmal war, wenn die verschiedenen Stände vor oder hinter dem Allerheiligsten gingen. Jeder Stand in einer besonderen Tracht, oft mit der Zunftfahne. Was war das für eine Pracht!“

„Gott sei Dank ist dieser alte Zopf bei einer Fronleichnamsprozession heute überwunden. Gott sei Dank, Schluss damit, dass diese Ungerechtigkeit der Klassenunterschiede nach außen noch angesichts des Allerheiligsten zelebriert wird,“ argumentieren andere.

Außer dem Erlöserschwesternblock, den Kommunionkindern, dem liturgischen Dienst und ein paar Honoratioren des öffentlichen Lebens sticht heute niemand mehr bei der Prozession heraus. Gott sei Dank ist da nicht mehr zu erkennen, wer arm oder reich ist, wer sein Geld mit der Hand oder mit dem Kopf verdient, wer zu den Erfolgreichen und wer zu den Loosern, wer zu den Leistungsträgern oder den Sozialhilfeempfängern gehört.

Ich persönlich trauere der alten Ständeprozession am Fronleichnamstag nicht nach. Aber manchmal frage ich mich, ob unsere Gesellschaft mit dem Zerfallen der Stände wirklich gerechter geworden ist oder ob in der modernen Gesellschaft die himmelschreienden Unterschiede in unserem Land nur besser kaschiert werden.

Egal, wo ich mich persönlich einordne, eines ist vor dem, auf den wir heute in dieser Fronleichnamsprozession hören und schauen klar: Vor ihm gibt es keine Klassenunterschiede. Er fordert zur Gerechtigkeit und Barmherzigkeit auf. Das macht unruhig und stellt Fragen an uns, wie es damit in meinem Leben bestellt ist, was ich tun kann, damit diese von ihm geforderte „größere Gerechtigkeit“ mehr Heimatrecht erhält. Und das ist für viele ein Trost, dass er auf der Seite derer steht, die sich danach sehnen, dass ihnen mehr Barmherzigkeit und Gerechtigkeit widerfährt.


Pfarrer Stefan Mai

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