Die Träume derer, die nichts zu sagen habe

Predigt zum Pfingstmontag 2004 (Joel 3,1-5)

Einleitung

Bei einer Priesterfortbildung meinte ein alter Pfarrer: Wenn ich Bischof wäre, dann würde ich wichtigen Entscheidungen für die Zukunft sagen: Jetzt verlassen alle, die über 50 sind, den Raum – und lassen diejenigen zu Wort kommen, die von Entscheidungen betroffen sind, die wir heute fällen.
In meinen Augen ein wirklich pfingstlicher Vorschlag – ganz auf den Spuren der recht unbekannten Pfingstlesung aus dem Prophetenbuch Joel.

Predigt

Ich habe den Eindruck: Egal ob in der Kirche oder in der Politik, in der Wirtschaft oder in sozialen Fragen: Wir sitzen in einem Loch. Nichts geht voran. Allgemeine Ratlosigkeit vereint Deutschland zur Zeit. Allen ist klar, dass es so nicht weitergehen kann. Aber was tun? Was bringt den Durchbruch? Welche Wege führen aus dem Loch heraus? Es gibt keine Perspektive, die wirklich alle überzeugt.
Manchmal haben wir den Eindruck: Jetzt kommt das große Zauberwort. Monatelang wurde vor ein paar Jahren in den Medien von dem „Ruck“ gesprochen, der durch Deutschland gehen muss. Roman Herzog hat mit seiner berühmten Rede alle aufgerüttelt. Er hat klar gemacht: Es gibt nur eine Perspektive: Wir sind alle dran. Alle müssen am gleichen Strang ziehen. Es darf kein Leben auf Kosten anderer geben. Es kann nicht sein, dass die unteren Schichten nur frustriert den Finger auf „die da oben“ richten und sagen: Die leben doch nur auf unsere Kosten, stecken die großen Gehälter ein und wirtschaften nur in ihre eigene Tasche. Und es kann auch nicht sein, dass umgekehrt „die da oben“ nach unten zeigen und sagen: Es müsste viel mehr Eigeninitiative geben und nicht nur auf die Sozialsysteme gepocht werden.
Aber leider: Vom „Ruck“ wurde zwar viel gesprochen. Aber „gerückt“ hat sich nichts. Kein Weg aus dem Loch. Die gleiche Lethargie nach wie vor. Keine großen Perspektiven.
Im Loch sitzen und keinen Ausweg finden, das ist nichts Neues. Militärische Bedrohung und wirtschaftliche Notsituation, damit sieht sich auch der Prophet Joel konfrontiert, aus dessen Buch die heutige Pfingstlesung genommen ist. Joel spürt, wie die Menschen in sich zusammensacken, ohne Antrieb sind und alles einfach auf sich zukommen lassen. Aber da spricht Joel eine große Vision aus. Und diese Vision rückt den fest zementierten Strukturen der Gesellschaft zu Leibe. Passen Sie einmal genau auf, wer für Joel die Hoffnungsträger der Gesellschaft sind:

So spricht der Gott, der Herr:
Es wird geschehen,
dass ich meinen Geist ausgieße über alles Fleisch.
Eure Söhne und Töchter werden Propheten sein.
Eure Alten werden Träume haben.
Und eure jungen Männer haben Visionen.
Auch über Knechte und Mägde werde ich meinen Geist ausgießen in jenen Tagen (Joel 3,1-2).

Haben Sie’s gemerkt? Die Hoffnungsträger sind nicht die obersten Priester, nicht die politischen Größen, nicht einmal die Träger der Gesellschaft, die mittlere Generation, die das Sagen hat. Gottes Geist, der neue Wind, kommt nach Joel genau über diejenigen, die sonst nichts zu sagen haben: Das sind die Sklavinnen und Sklaven, die sonst nur auf Befehle zu hören haben. Das sind die Alten, deren Kraft schon am Ende ist und die als Ballast halt so mitgeschleppt werden. Und das sind die Jungen, die noch keine Erfahrung haben und auf die man als Grünschnäbel nicht hört. Und Joel sagt: Die wissen den Weg. Die sehen, wo es hingehen muss. Die können Perspektiven entwickeln, die aus dem Loch führen. Wenn ihr Gott traut, dann müsst ihr auf die Stimme der Alten hören, auf die Stimmen der Kinder und derer, die wirtschaftlich ausgebeutet werden.
Nicht auszudenken: Wenn heute Kinder gefragt würden: Wie stellt ihr euch eine lebenswerte Zukunft vor? Wenn Alte gefragt würden: Was braucht ihr, um selbst sinnvoll zu leben. Was könnt ihr zum Wohl der Gesellschaft beitragen? Nicht auszudenken: Wenn Menschen, die am Existenzminimum leben, denen das Wasser bis zum Hals steht, im Parlament den hochdotierten Politikern davon erzählten könnten, wie sie sich tagtäglich plagen müssen, um sich und ihre Familien durchzubringen.
Nicht auszudenken: Wenn auf diese Stimmen gehört würde. Und nicht auszudenken: Wenn Kirche damit anfangen würde. Das wäre ein neues Pfingsten.

Fürbitten

Wir beten mit einem modernen geistlichen Lied:
L1 Wir haben einen Traum, der macht nicht blind.
Wir sehen.
L2 Hellsichtig sind wir mitten im Dunkel.
Nicht mehr verborgen sind Mängel und Zwänge,
Die unser Leben binden.
Unser Traum sucht die neue Welt,
nicht der falschen Propheten,
sondern der Botschaft Gottes.
Wer Augen hat zu sehen,
der sehe!
L1 Herr, befreie uns!
A Herr, befreie uns!

L1 Wir haben einen Traum, der macht nicht taub,
wir hören.
L2 Hellhörig sind wir mitten im Lärmen.
Nicht überhörbar sind Schreie und Schüsse,
die über die Erde gellen.
Unser Traum sucht die heile Welt,
nicht der Marktschreier,
sondern der Verheißung Gottes.
Wer Ohren hat zu hören,
der höre.
L1 Herr, befreie uns!
A Herr, befreie uns!

L1 Wir haben einen Traum ,der macht nicht stumm,
wir rufen.
L2 Bittende sind wir mitten im Reichtum.
Nicht zu ertragen sind Grenzen und Mauern,
die die Menschen entfremden.
Unser Traum sucht die geschwisterliche Welt,
nicht der Propagandisten,
sondern der Liebe Gottes.
Wer Stimme hat zu rufen,
der rufe.
L1 Herr, befreie uns!
A Herr, befreie uns!


Pfarrer Stefan Mai

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