Neu auf den Geschmack kommen

Predigt zum Pfingstsonntag 2004 (Apg 2,1-11)

Das meistgemalte Motiv des pfingstlichen Geschehens ist sicherlich die Szene: Die Apostel haben sich mit Maria in einem Saal versammelt und über jeden von ihnen schwebt eine große Feuerzunge. „Und es erschienen ihnen Zungen wie von Feuer, die sich verteilten. Auf jeden von ihnen ließ sich eine nieder.“ Diese Passage der Pfingsterzählung setzen die Künstler damit in Szene.
Ein eigenartiges Bild. Und dennoch glaube ich, dass es uns hilft, das Wirken des heiligen Geistes für uns aufzuschlüsseln. Unsere menschliche Zunge ist ein wahres Wunderwerk. Auf der Oberseite der Zunge befinden sich –zigtausende von kleinen fadenförmigen Wärzchen. Durch sie wird unsere Zunge zum Schmeckorgan. Durch sie wissen wir, wie unterschiedlich Speisen und Getränke schmecken, süß oder salzig, sauer oder bitter. Durch sie werden unsere Geschmacksnerven gekitzelt und wir können feinste Nuancen von Gewürzen, Weinen und Aromastoffen unterscheiden. Ohne Zunge hätten wir keinen Geschmack. Und alles würde gleich schmecken. Die Zunge bringt uns auf den richtigen Geschmack, und ohne sie wäre das Leben ein Stück fader.
„Und es erschienen ihnen Zungen wie von Feuer, die sich verteilten. Auf jeden von ihnen ließ sich eine nieder“, heißt es in der Pfingsterzählung. Und das heißt für mich: Die Jüngerinnen und Jünger kommen an Pfingsten neu auf den Geschmack. Mit der Kreuzigung war ihnen die Botschaft Jesu vergällt. Sie drohte zu verstummen und reizte keinen mehr, sie weiterzuerzählen. Aber an Pfingsten kommen sie wieder auf den Geschmack.
Die Botschaft von Jesus wird nicht weitererzählt, wenn Menschen nicht auf den Geschmack kommen. Menschen dürfen nicht nur dürre Sätze hören, sondern sie müssen Geschmack daran finden. Sie dürfen nicht nur „Du musst …!, du sollst…!“ hören, sondern sie müssen Lust darauf bekommen. Glaube dürfte weniger mit Abstraktion und hochgeistigen Überlegungen zu tun haben, sondern müsste den Geschmack von alltäglichen Erfahrungen bekommen, von Worten, die uns treffen und Ratschlägen, die uns weiterhelfen.
Ich glaube nicht, dass Menschen Geschmack an Gott bekommen können, wenn ihnen die Welt und ihr Leben nicht schmeckt. Glaube müsste eher Geschmacksverstärker sein. Einführung in den Glauben müsste stärker gekoppelt sein mit Wahrnehmung des Lebens. In unserer virtuellen Welt der Reizüberflutung,
wo Menschen schon nicht mehr richtig hören, ohne dass der Arzt wirkliche Hörstörungen feststellen kann,
wo sie Sehstörungen beklagen, weil sie nur noch auf die Mattscheibenbilder starren,
wo sie Berührungen schon nicht mehr spüren, weil das soziale Miteinander auseinander fällt – da heißt Glauben lernen ganz einfach für mich: die Sinne des Lebens wieder neu entdecken.
Ich habe Ohren nicht nur, um mich berieseln zu lassen, um die feinen Töne wahrzunehmen.
Ich habe Augen nicht nur, um zu glotzen, sondern um genau hinzuschauen, zu staunen, Neues zu entdecken.
Ich habe Hände, nicht nur um Knöpfe zu drücken, sondern mit ihnen zu ertasten und aktiv zu gestalten, zu formen, zu fühlen.
Ich habe einen Geschmackssinn nicht nur, um meinen Hunger zu stillen um alles in mich hineinzuschlingen, sondern um zu genießen, die Dinge auf der Zunge vergehen zu lassen.
Liebe Leser, die Zunge über den Aposteln auf den Pfingstbildern sagt mir: Wer dem Leben neu auf den Geschmack kommt, der findet auch neuen Geschmack am Glauben.


Pfarrer Stefan Mai

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