Von der Versuchung eins zu sein

Predigt zum 7.Sonntag der Osterzeit (Joh 17,20-26)

Eines der bekanntesten Liebesgedichte aus dem Mittelalter lautet:

Du bist min, ich bin din:
des solt du gewis sin.
Du bist beslozzen
in minem herzen;
verlorn ist daz slüzzelin:
du muost immer drinne sin.


Welche leidenschaftliche Sehnsucht, mit dem anderen völlig eins zu sein. Der andere aufgehoben in mir. Er in ihr, sie in ihm. Einheit fast als Verschmelzung gedacht. Was der mittelalterliche Dichter von der partnerschaftlichen Liebe erträumt, das scheint das heutige Evangelium noch ausweiten zu wollen: Alle sollen eins sein: „Wie du, Vater in mir bist und ich in dir bin, sollen auch sie in uns sein, damit die Welt glaubt, dass du mich gesandt hast.“

Wie oft wird dieses Wort in ökumenischen Gottesdiensten zitiert und beschworen. Wie oft entsteht der Eindruck, Einheit im Glauben, das bedeutet einmal Verschmelzung der verschiedenen Kirchenausprägungen zu einer einheitlichen Form. Zur Zeit hängen an den evangelischen Kirchen die Plakate für den zweiten unterfränkischen Kirchentag am 27. Juni in Würzburg aus. Das Motto macht stutzig: „Von der Versuchung eins zu sein“. Wie passt das zusammen? Was im Johannesevangelium als sehnsüchtiger Wunsch formuliert wird: Alle sollen eins sein, wird hier als „Versuchung“ bezeichnet. Zeugt ein solches Wort von ökumenischer Weite?

Ich persönlich könnte mir kein besseres und treffenderes Motto für das ökumenische Ringen vorstellen. Denn neben der völligen Ablehnung des ökumenischen Gesprächs und des gegenseitigen Aufeinanderzugehens der verschiedenen Konfessionen nennt dieses Motto den zweiten großen Feind der Ökumene: Den Hang zur Vereinheitlichungstendenz und zur Gleichschalterei. Einheit verstanden als Vereinheitlichung. Eine Form, unter die alle über Jahrhunderte hin ausgeprägten Formen und Traditionen der verschiedenen Konfessionen wie unter ein großes Dach zurückkehren sollen. Diese Form von Einheit würde ich fürchten: Eine Einheit von oben verordnet, von den starken Konfessionen diktiert. Denn die Urkunde unseres Glaubens, das Neue Testament, hat selbst niemals eine Uniform des Denkens geschneidert, sonst gäbe es im NT nicht 27 Schriften, die das Wirken und die Bedeutung Jesu für jeweilige Gemeinden interpretieren, davon allen vier verschiedene Evangelien, die alle den gleichen Stoff, eben die Jesusgeschichte, ganz anders erzählen. Die Urkunde unseres Glaubens hat der Theologie keine Uniform verpasst, sonst gäbe es nicht die unterschiedlichen theologischen Denkansätze eines Markus, eines Johannes, eines Paulus. Und sie hat auch kein rubrizistisches Modell eines immer und ewig gültigen Gottesdienstmodells fabriziert, das jede Entwicklung des Gottesdienstes kategorisch ablehnt.

Das Motto „Von der Versuchung eins zu sein“ wirbt aber zugleich dafür, die Vielgestaltigkeit der Traditionen und Formen nicht als Gefahr zu sehen, sondern als Reichtum. Und ich meine, es zwingt uns, den großen Wunsch Jesu: „Alle sollen eins sein“ richtig zu verstehen. Wie Jesus mit Gott in inniger Beziehung, in Einheit steht, so sollen auch die unterschiedlichen Konfessionen, die Christen bei allen unterschiedlichen Prägungen mit Gott und Jesus in Verbindung stehen und diese Verbindung pflegen. Denn wenn ich dem anderen zutraue, dass er die gleiche Verbindung zu Gott und Jesus pflegt wie ich, dann werde ich ihn nicht als Konkurrenten sondern als Bündnispartner sehen, der sein Leben nach den gleichen Wertvorstellungen in unserer Zeit ausrichten möchte wie ich. Wenn wir in dieser Form Ökumene leben würden, dann würde dies in unserer Welt Aufsehen erregen und es könnte alle Hektik und aller Druck schwinden, der für die Einheit Termine setzen möchte.

Unübertroffen finde ich die Antwort des Patriarchen von Konstantinopel, der im Jahr 1964 in Jerusalem mit Papst Paul VI. zusammentraf. Als er gefragt wurde, wann denn nun mit der Wiedervereinigung der Christen zu rechnen sei, hat er geantwortet: „Wir Christen waren nie vereinigt, aber wir lebten in Gemeinschaft.“


Pfarrer Stefan Mai

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