Wer ist der Hirte?

Predigt zum 4.Sonntag in der Osterzeit (Joh 10,27-30)

Der sogenannte Guthirten-Sonntag am 4.Sonntag in der Osterzeit wird in alter Tradition unserer Kirche als Tag der geistlichen Berufe gefeiert. Durch diese Koppelung wird geradezu die Vorstellung verstärkt: Der Geistliche ist ein Hirte, die Gemeindemitglieder seine Schafe.

So haben sich die Pfarrer auch über Jahrhunderte hinweg verstanden. Und es soll Zeiten gegeben haben, da begannen die Prediger mit „meine lieben Schäfchen“. Und wenn heute Pfarrer zusammenkommen und sich über Probleme und Entwicklungen in den Gemeinden austauschen, da kann es schon vorkommen, dass auch noch heute einer fragt: Na wie viele Schäfchen hast du? Entweder nennt dann der andere treubrav die Zahl der Gemeindemitglieder oder kontert gewitzter: Ich hab nicht nur Schäfchen, sondern da sind auch ganz schön gescherte Hammel darunter. Dass das Hirtenbild bis heute noch in der Kirche in Gebrauch ist, davon zeugt schon allein die Tatsache, dass wir noch immer vom „Oberhirten“ oder der „oberhirtlichen“ Stelle sprechen.

Auch wenn viele Menschen dieses Bild vom Hirten und den Schafen nicht mehr anspricht, weil keiner als dummes Schaf dastehen oder auf die Gnade und Fähigkeit eines Hirten angewiesen sein möchte, so ist es merkwürdig, dass dieses Hirtenmotiv vor allem in der Kommunionbildszene immer noch beliebt ist. Jesus als Hirte, friedlich um ihn herum grasen die Schafe. Das Kind, das ein solches Bild in sein Gesangbuch legt oder in seinem Zimmer aufhängt, fühlt sich als eines dieser Schäfchen.

Und doch ist dieses Hirtenbild ein anderes als das zuvor genannte. Denn hinter diesem Hirtenbild steckt die Vorstellung: Jesus oder Gott selbst ist der Hirte. Ich als eines seiner Schäfchen habe eine unmittelbare Beziehung zu ihm. Er kennt mich beim Namen und ich kenne seine Stimme. Gott selbst führt mich durchs Leben. Genau dieses Hirtenbild vertritt das Johannesevangelium. Da gibt es eigentlich keine menschlichen Hirten. Der Hirt ist hier Jesus. Jeder hat zu ihm eine unmittelbare Beziehung zu ihm. Er kennt sie mit Namen. Da braucht es keine Vermittler oder Zwischenhirten.

Liebe Leser, ich glaube, dass es in Zukunft genau darauf ankommt: Ich habe eine persönliche Beziehung zu meinem Gott und Jesus und vertraue darauf, dass diese Beziehung mein Leben bereichert und auch ein Leben lang mich trägt.
So gesehen könnte ich den Tag der geistlichen Berufe am Guthirtensonntag in diesem Rahmen einmal anders verstehen: Nicht jammern, dass es keine Pfarrer mehr gibt, und deshalb um mehr geistliche Berufe beten. Wenn ich das Hirtenbild des Johannesevangelium ernst nehme dann geht es eigentlich darum, dass jeder seine Beziehung zu Gott und Jesus pflegt, vertieft und sich seiner Führung im Leben anvertraut. Wenn dies ernst genommen würde, dann wird es zweitrangig, wie viele Hirten und Oberhirten es gibt. Und noch mehr, wenn diese Beziehung zum Hirten Gott und Jesus ernst genommen würde, gäbe es auch mehr Hirten der zweiten Gattung.


Pfarrer Stefan Mai

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