Maria, lebensspendender Quell

Maiandacht am 1.Mai 2004 in St. Maximilian Kolbe

Einleitung

„Ich sehe dich in tausend Bildern, Maria, lieblich ausgedrückt.“ Oft wird dieses Wort des Dichters Novalis zitiert. Und es stimmt. Es gibt kaum ein häufigeres Motiv in der Kunstgeschichte als die Darstellung Mariens. Allein In der Ostkirche gibt es 250 Typen von Darstellungen wie sie Ikonenmaler gemalt haben. Es gibt kaum eine Stadt, eine Landschaft, einen See, einen Fluss, ein Dorf, aber auch keinen Stand und Beruf in den unendlichen Weiten der Ostkirche, der nicht die Gottesmutter zu seiner Patronin erwählt hätte.
Lieblich sind allerdings die meisten Mutter Gottes Ikonen der Ostkirche nicht. Maria hat meist einen strengen fragenden Blick. Im Liturgieausschuss haben wir uns entschieden, für die Maiandachten in diesem Jahr fünf Ikonendarstellungen der Mutter Gottes auszuwählen – auf sie zu schauen und uns von ihnen anschauen lassen.

Predigt

Ich werde es nie vergessen, wie mir ein alter Russlanddeutscher erzählte, wie sie in die Sümpfe Sibiriens deportiert wurden, dort einfach aus dem Zug geworfen wurden und ohne alles, ohne Werkzeug, ohne Wohnung, ohne jegliche Hilfsmittel zu überleben versuchten. Er erzählte, wie sie sich mit den bloßen Händen anfangs Erdlöcher gruben, um darin zu hausen, und von Brennnesseln und Kräutern des Waldes lebten. Was das Schlimmste war, meinte er: Es gab keine klaren Quellen, nur das stinkende Moorwasser, mit Kleiderfetzen seihten wir es am Anfang ab, um den größten Dreck herauszufiltern. Trotzdem war dauernder Durchfall unser ständiger Begleiter und raffte zuhauf Kinder, alte und schwache Menschen hinweg.
Und Reinhold Stecher, der Altbischof von Innsbruck, schrieb einmal die Zeilen: „Seitdem ich im 2.Weltkrieg in den schier endlosen Sümpfen Russlands war, habe ich nach meiner Rückkehr aus dem Krieg geschworen, nie werde ich in meiner Heimat an einer Quelle vorbeigehen und sie nicht beachten.“
Schon der alte römische Philosoph Seneca formulierte zur Zeit Jesu den Satz: „Wo eine Quelle entspringt und ein Wasser fließt, sollten wir Altäre bauen und ein Opfer darbringen.“ Die Menschen wussten schon immer, was Wasserquellen bedeuten, nämlich Quellen des Lebens.

Lebensspendende Quellen

Für die Gründungen von Siedlungen waren Quellen unentbehrlich und auch ihre Heiligtümer bauten die Menschen der Antike mit Vorliebe und aus Dankbarkeit in der Nähe von oder auf Quellen. Göttinnen waren die Beschützerinnen der Brunnen. Viele christliche Kirchen wurden später anstelle von heidnischen Quell- und Brunnenheiligtümern erbaut, z. B. der Kölner Dom, der Dom zu Paderborn. Madonnen- oder Heiligenstatuen ersetzten heidnische Kultbilder. Brunnen und Quellen, besonders Heilquellen, wurden dem Schutz Marien unterstellt oder führten sogar ihren Namen, wie z.B. Marienbad.



In der orthodoxen Kirche, in der Kirche des Ostens wird Maria im übertragenen Sinn als lebensspendende Quelle verehrt. Ein byzantinischer Lobpreis Mariens fordert auf: „Preisen wir, o ihr Gläubigen, die Gottesmutter, die lebensspendende Quelle, sei gegrüßt, die du einen reich strömenden Fluss entsendest!“ Die orthodoxe Theologie versteht Maria als Glaubensquelle: Wie eine Quelle die Geburtsstätte eines Flusses ist, so bringt Maria als lebensspendende Quelle Jesus hervor und entsendet ihn als reichströmenden Fluss.


Ikone „Lebensspendender Quell“

Und die Ikonenmaler der orthodoxen Kirche haben den Bildtypus „Maria, die lebensspendende Quelle“ geschaffen. Was im übertragenen Sinn als Glaubensquelle gemeint war, wurde in der Volksfrömmigkeit zu einer wundertätigen Quelle für Heilungssuchende. Die Gottesmutter sitzt mit dem Gottessohn in einer großen kelchförmigen Brunnenschale. Wasser fließt aus dieser Brunnenschale in ein Brunnenbecken. Menschen schöpfen von diesem Wasser. Kranke treten an das Brunnenbecken und hoffen auf Heilung ihrer Leiden und Gebrechen. Ein Lahmer, gestützt auf einen Stock nähert sich mit großer Hoffnung dem Brunnenbecken. Ein Blinder oder ein Mensch, der vor Trauer und Verzweiflung nichts mehr sehen kann, wäscht sich mit dem Wasser die Augen aus. Ein psychisch Kranker, der von einer Teufelsfratze traktiert wird, kommt ans Wasser. Maria, die lebensspendende Quelle als Heil der Kranken. Es gäbe auch bei uns keine Wallfahrtsorte wie Maria Brünnlein oder Lourdes, wenn diese Sehnsucht nach einer wundertätigen Quelle für Heilungssuchende in der Volksfrömmigkeit nicht lebendig wäre.

Meine lebensspendenden Quellen

Mich persönlich fragt die Ikonendarstellung ganz einfache Dinge. Sie fragt mich: Was sind denn für dich lebensspendende Quellen, aus denen du täglich trinkst, die dich erfrischen?
Ich schaue auf unsere Ikone. Maria hält ihr Kind im Arm und schenkt ihm Halt. Und ich weiß:
Auch für uns heutige Menschen sind Menschen, die mir Halt geben, deren Zuneigung mir sicher ist, deren Wohlwollen verlässlich ist, Quellen des Lebens.
Ich schaue auf unsere Ikone und sehe Maria, wie sie mir Jesus entgegenhält, der eine Schriftrolle in der Hand hat. Und ich spüre: Mein Leben wäre viel ärmer, wenn ich seine Worte nicht kennen würde, meine Lebensauffassung, meine Lebenseinstellung ist doch gerade aus seinen Worten gespeist. Und ich kenne den Durst nach Worten, die mich zum Nachdenken bringen, die mich anfragen oder Impulse geben, die einfach eine Quelle des Lebens sind. Und gerade als einer, der Worte als lebensspendende Quelle für andere in so vielen Predigten und Gesprächen weitergeben möchte, weiß ich, dass gerade ich nicht ohne lebensspendende Worte aus verschiedensten Quellen leben könnte. Ich brauche sie, die Worte aus der Bibel, die Weisheiten aus den Mündern von einfachen Menschen, aus der Feder von modernen Dichtern, aus den alten Schätzen unserer Lieder, Gebete und Gedichte. All das sind ewige Brunnen des Lebens.
Ich schaue auf unsere Ikone „lebensspendender Quell“ und sehe Maria, wie sie uns Jesus in einer segnenden Haltung zeigt. Und mir ist bewusst, wie viele Menschen mir in meinem Leben zum Segen waren und sind. Und ich spüre die Frage an mich: Für wen bist du selbst eine „Lebensspendende Quelle“?

Dankgebet

Gott, du Freund des Lebens, wir danken dir vor der Ikone, die Maria als lebensspendenden Quell darstellt für alle lebensspendenden Quellen unseres Lebens:
V/A: Danken wir dir

Für Menschen, die mir wichtig und wertvoll sind
Für die Harmonie in der Familie
Für ein gutes Verhältnis zu Nachbarn
Für einen festen Halt im Glauben
Für die Kraft des Gebetes
Für alle guten Worte, die ich höre
Für die Freude an der Natur und der Musik
Für das Eingebundensein in Gremien oder einem Verein
Für die Beheimatung in der Pfarrgemeinde
Für die Freude an der tägliche Arbeit
Für ein gesichertes Einkommen
Für meine Hobbies und Zeiten der Entspannung
Für alle guten Anregungen aus Büchern, Radio und Fernsehen
Für den reich gedeckten Tisch
Für die Mittel und Möglichkeit, Urlaub zu machen
Für die Ruhe in der nachberufliche Phase
Für die eigene Wohnung oder den Bau eines Hauses
Für den neuen Freiraum, als die Kinder aus dem Haus waren
Für die Überwindung einer ernsten Krankheit
Für das Durchstehen einer schweren Krise
Für ärztliche Betreuung und wichtige Medikamente
Für die Zufriedenheit mit meinem Leben.

Bittgebet

Gott du Freund des Lebens, vor dem Bild Maria als lebensspendender Quell wird uns auch bewusst, was unser Leben schwer machen, bedrohen und vergiften kann. Deswegen bitten wir:
V/A: Erlöse uns, o Herr

Von einem Leben in Angst und Einsamkeit
Von Mutlosigkeit und Verzagtheit
Vom Gefühl der Sinnlosigkeit
Von der Orientierungslosigkeit im Leben
Vom Familienzerfall und Beziehungskrisen
Vom Leben in Krieg, Hass und Gewalt
Von aller Diskriminierung von Menschen
Von unlösbaren Spannungen und Konflikten
Von der Härte des Leistungsdenkens
Von jeder Form des Egoismus
Von einem falschen Sicherheitsdenken
Von allen negativen Folgen des Lebens in Wohlstand
Von allem, woran unsere Gesellschaft krankt
Von all dem, was das Leben der Menschen zermürbt
Von der Entfremdung der Menschen
Von der Sünde der Bequemlichkeit und Interesselosigkeit
Von der Sünde des Neides und der Habsucht
Von der Sünde der ständigen Unrast
Von all der Unbeherrschtheit des Lebens
Vom blinden Fortschrittsglauben
Vom Glauben, dass wir alles machen und uns alles leisten können
Von aller menschliche Überheblichkeit
Herr, unser Gott, das Leben jeder Menschengeneration ist voll von Fragen und Problemen. Vieles bleibt ungelöst. Lass uns das unsrige beitragen zu einem gelingenden Leben. Darum bitten wir dich durch Christus, unsern Herrn.


Pfarrer Stefan Mai

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