Das große Schauspiel

Gedanken zur Gestaltung der Passionsgeschichte durch den Evangelisten Lukas

Hinführung zur Palmprozession

In einem Gedicht unserer Tage heißt es:

Als der Läufer zusammengebrochen war, standen die Trainer um ihn herum. Ratlos.
Sie hatten alles trainiert, nur nicht die Niederlage.


Leistung, Erfolg, Gewinn, das sind Zauberworte unserer Zeit. Wer dies vorweisen kann, der zählt etwas; der ist gefragt und umworben; der hat Fans und Bewunderer auf seiner Seite; den umschmeicheln die Medien und den lockt die Werbeindustrie mit Angeboten. Wer einmal auf dieser Erfolgswelle schwimmt, dem gnade Gott, wenn die Erfolgswelle einmal reißt. Kleine Ausrutscher werden vielleicht noch verziehen, aber Niederlagen bedeuten das Ende.

Als der Läufer zusammengebrochen war, standen die Trainer um ihn herum. Ratlos.
Sie hatten alles trainiert, nur nicht die Niederlage.


Das Gedicht hat recht: Bei uns wird nur auf Erfolg trainiert. Aber wer hilft wirklich Menschen, mit den Niederlagen ihres Lebens zurecht zu kommen?

Wir Christen feiern in dieser Woche wieder die Karwoche. In dieser Woche wird uns der Weg des Jesus von Nazareth vor Augen geführt, der von einer Siegesstraße in eine vernichtende Niederlage führt. Das Nachgehen dieses Weges kann ich als Christ als Einladung verstehen, nicht die Augen einfach vor den Niederlagen des Lebens zu schließen, sondern sie bewusst ins Leben einzubeziehen. Und es wird uns gezeigt, dass ein Mensch durch seine Niederlage in der Geschichte unserer Welt viel mehr ausgelöst und bewirkt hat als Millionen von Siegertypen, die es nie gelernt haben, mit den Niederlagen zurechtzukommen.

Hinführung zur Passion

Ich kann mich noch gut erinnern, wie ich vor über 30 Jahren mit meiner Mutter zum ersten Mal die Passionsspiele in Sömmersdorf gesehen habe. Es hat mich tief berührt, wie dieses Passionsschauspiel die Menschen viel mehr innerlich ergriffen hat als das bloße Hören der Passionsgeschichte. Bei manchen Szenen liefen vielen still die Tränen über die Wangen, manche begannen sogar zu schluchzen. Bis heute rühren die Passionsspiele an die Emotionen von Menschen. Vielen steigen beim Zuschauen der Szenen aus der Leidensgeschichte Situationen aus dem eigenen Leben auf. Ein Judas erinnert plötzlich an Menschen, die mich links liegen gelassen haben oder die aus Leichtsinn aus meinem Blickfeld verschwunden sind. Eine Maria unter dem Kreuz führt eigene Ohnmachtsituationen vor Augen, in denen ich nicht wusste, wie es weitergehen soll. Ein Simon von Kyrene erinnert mich an mein gutes Herz, das zupacken lässt, auch wenn ich nicht weiß, was ich davon habe.
In diesem Jahr hören wir die Passionsgeschichte des Evangelisten Lukas. Wie kein anderer Evangelist versteht er es, die Passionsgeschichte als Schauspiel zu inszenieren. Kein Wunder. Er ist Grieche und schreibt vor allem für Griechen. Und die Griechen liebten die Schauspiele ihrer großen Dichter. Im Schauspiel werden menschliche Grundsituationen und Konflikte mit all den darin aufbrechenden Emotionen und Leidenschaften dargestellt. Der Zuschauer kommt dadurch in Berührung mit seinen eigenen verdrängten Emotionen und Leidenschaften. Er entdeckt die Abgründigkeit seines Herzens, seine Bedürfnisse und Sehnsüchte, seine Gefährdungen und innere Zerrissenheit. Die Griechen waren überzeugt: Das Schauspiel hat reinigende Wirkung, indem ich dem Schauspiel beiwohne, werde ich selbst mit meinem Leben da hineingezogen, ich muss mich mit dem Stoff auseinandersetzen und werde dadurch innerlich verwandelt.
Der Evangelist Lukas hat seine Passionsgeschichte als Schauspiel verstanden und damit die Hoffnung verbunden, dass das Dargestellte betroffen macht und die Zuhörer als ein Stück Verwandelte nach Hause gehen lässt.

Lesen der Passionsgeschichte Lk 22,39-23,48

Einschub

„Und alle, die zu diesem Schauspiel herbeigeströmt waren und sahen, was sich ereignet hatte, schlugen sich an die Brust und gingen betroffen weg.“ (Lk 23,48)

Nicht Nervenkitzel, nicht Ergötzen an Brutalität und Grausamkeiten, aber auch nicht Versinken in pures Mitleid möchte der Evangelist mit seinem Passions-Schauspiel erreichen. Er setzt auf Betroffenheit. Der Hörer soll sich an die Brust klopfen, wie die Menschen, die damals das Geschehen am Kreuz mitverfolgten. Das Gehörte soll ihn berühren und zur Umkehr bewegen.
Schon der Zöllner hatte sich im Tempel ganz hinten an die Brust geklopft und ging als ein verwandelter Mensch nach Hause.
Auch unter dem Kreuz gehen Menschen verwandelt hervor, treten heraus aus der Masse und machen vor, wozu der Evangelist Lukas Menschen bewegen will.
Da tritt der rechte Schächer heraus aus dem Kreis der Spötter, die den Hilflosen am Kreuz verhöhnen und veräppeln und ihm so die letzte Würde nehmen, drückt sein Vertrauen zu Jesus aus und erfährt dadurch die Bekehrung seines Lebens.
Da tritt aus der Reihe der Soldaten der römische Hauptmann heraus und erkennt den von den Gerichten Verurteilten als den einzig wahren Gerechten und sieht in dem elenden Sterben Gott am Werk. Er bekommt eine neue Sicht der Dinge geschenkt.
Und da distanziert sich ein Josef von Arimathäa von den Mitgliedern des Hohen Rates, schmiedet keinen Komplott mit ihnen, sondern wechselt die Seiten und bekennt sich zum Verurteilten und ermöglicht einem verachteten Gekreuzigten ein Ehrenbegräbnis.
Diese Beispiele suchen unter de Hörern Nachahmer. Zu solcher Betroffenheit und Umkehr möchte Lukas bewegen.

Die Passion wird zu Ende gelesen.


Pfarrer Stefan Mai

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