Das kleine Wörtchen „Vielleicht“

Predigt zum 3.Fastensonntag (Ev: Lk 13,6-9)

Einleitung

In der Anfangszeit meines Studiums schrieb der bekannte Alttestamentler Gerhard Lohfink ein Buch mit dem Titel „Die großen Wörter“. Er griff darin Worte auf, die in der biblischen und christlichen Tradition eine überragende Bedeutung haben, und versuchte, sie für heutige Menschen zugänglich zu machen, wie z. B. die Wörter „Erlösung“, „Opfer“, „Sühne“, „Erfüllung“...
Wer auf seinen Alltag schaut, weiß aber auch: Oft bestimmen die kleinen Wörter entscheidend das Leben mit. Zwei kleine Wörter möchte ich mit Ihnen heute und am nächsten Sonntag bedenken, die kleinen Wörter „Vielleicht“ und „Nein“.

Predigt

Ein junger aufgeklärter Mann kam zu Rabbi Levi Jizchak von Berditschew, um mit ihm zu diskutieren und ihm die Rückständigkeit seines Glaubens vor Augen zu stellen. Als er die Stube des Rabbis betrat, sah er ihn mit einem Buch in begeistertem Nachdenken auf- und abgehen. Auf den Ankömmling achtete er nicht. Schließlich blieb er stehen, sah ihn flüchtig an und sagte: „Vielleicht aber ist es wahr.“ Der junge Intellektuelle nahm vergebens all sein Selbstgefühl zusammen – ihm schlotterten die Knie, so furchtbar war der Rabbi anzusehen, so furchtbar sein schlichter Spruch zu hören. Rabbi Levi Jizchak aber wandte sich ihm nun völlig zu und sprach ihn gelassen an: „Mein Sohn, die Großen unseres Glaubens, mit denen du gestritten hast, haben ihre Worte an dich verschwendet, du hast, als du gingst, drüber gelacht. Sie haben dir Gott und sein Reich nicht auf den Tisch legen können, und auch ich kann es nicht. Aber, mein Sohn, bedenke, vielleicht ist es wahr.“ Der Aufklärer bot all seine innerste Kraft zur Entgegnung auf; aber dieses furchtbare „Vielleicht“, das ihm da Mal um Mal entgegenklang, brach seinen Widerstand.

Ein kleines Wörtchen, ein „vielleicht“, bringt einen Menschen zum Nachdenken und verändert ihn, oder besser gesagt: der Ton, mit dem dieses „Vielleicht“ ausgesprochen wurde.

Auf den Ton kommt es an. Denn das Wörtchen „vielleicht“ ist nach vielen Seiten hin offen und kennt viele Nuancen.
In diesem kleinen Wort kann ein vorsichtiger guter Rat versteckt sein: „Vielleicht kannst du das so machen oder das Problem auf diese Art lösen.“
Das Vielleicht kann als ausweichende Antwort auf eine Frage benutzt werden, um sich zu drücken, um mit der Wahrheit nicht herausrücken zu müssen, um den anderen hinzuhalten: „Erledigst du das für mich? – Vielleicht!“
Wenn sich ein Lehrer seinem Schüler zuwendet und sagt: „Vielleicht versuchst du es mal so“, dann kann dies ein ganz aufmunterndes Wort sein.
Im Vielleicht kann sich Vorsicht äußern. Da will einer nicht vorschnell eine Behauptung aufstellen und andere mit seiner Meinung festnageln: „Vielleicht kann der Grund darin liegen, dass er sich so komisch verhält.“
Im Wort vielleicht kann viel Hoffnungspotential versteckt sein: „Vielleicht gibt mir Gott noch ein paar Jahre, wenigstens bis meine Kinder erwachsen sind“, sagt die Krebskranke.

Auch im heutigen Evangelium begegnet uns dieses kleine Wörtchen „Vielleicht“. Dem Weinbergsbesitzer ist der Geduldsfaden mit dem Feigenbaum gerissen. Zu viel wurde schon in ihn investiert. Drei Jahre lang hat er schon nichts mehr gebracht und saugt nur für die Weinstöcke den Boden aus. Da gibt der Gärtner zu bedenken: „Herr, lass ihn dieses Jahr noch stehen; ich will den Boden um ihn herum aufgraben und düngen. Vielleicht trägt er doch noch Früchte!“ Wie viel Optimismus, wie viel Geduld, wie viel innere Kraft angesichts einer großen Enttäuschung steckt in diesem kleinen Wort. Da drückt einer die Hoffnung auf Veränderung aus, da möchte einer mit diesem Wort noch einmal eine Chance geben. Da glaubt einer noch an einen.

Liebe Leser, wir spüren, dass der Feigenbaum als Bild für uns Menschen steht, für unser eigenes Leben. Trauen Sie es sich selbst noch zu, dass Sie sich ändern können oder verändern werden? Trauen Sie das anderen Menschen noch zu, die Sie schon lange zu kennen meinen? Ja – Nein – Vielleicht -?

Fürbitten

Menschen sagen: Vielleicht wird es wieder besser. So viel Hoffnung liegt in diesem Wort. Gott wir bitten um die Kraft der Hoffnung für alle, die sie so nötig brauchen.

Menschen sagen „Vielleicht“ – und tragen schon ein Nein im Herzen. Gott, wir bitten um den Mut zu Klarheit und Ehrlichkeit.

Menschen sagen „Vielleicht“, weil sie unsicher geworden sind und sich nicht mehr festlegen wollen. Gott, wir bitten um einen klaren Blick für die Realitäten des Lebens und das nötige Selbstvertrauen, um die richtigen Entscheidungen treffen zu können.

Menschen sagen „Vielleicht“ und geben damit sich und anderen nochmals eine neue Chance. Gott, wir bitten dich, dass Menschen neue Chancen nutzen, dass ihnen die Umsetzung neuer Vorsätze gelingt.


Pfarrer Stefan Mai

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