Du bist der Auserwählte

Predigt zum 5.Sonntag im Jahreskreis (Lk 5,1-11)

Einleitung

Viele Menschen fühlen ähnlich: Ich bin nicht so, wie ich eigentlich sein möchte. Und werden ganz traurig. Der Dichter Gottfried Keller hat diese Erfahrung einmal in die kunstvollen Worte gebracht: „Und der ich bin, grüßt trauernd den, der ich sein möchte.“ Nur zum Trost gesagt: Auch der große Prophet Jesaja und der Apostelfürst Petrus, von denen wir heute in den Lesungen hören, fühlten nicht anders.

Predigt

Zur Zeit läuft in den Kinos der Kinderfilm „Hodder der Nachtschwärmer“. Dieser Film ist eine Verfilmung des gleichnamigen Jugendbuchs des beliebten dänischen Schriftstellers Bjarne Reuter, für das er im Jahr 2000 den deutschen Jugendliteraturpreis erhielt. Es erzählt von dem 10- jährigen Hodder, einem liebenswerten Sonderling mit einer ausgeprägten Phantasie. Vor allem nachts, wenn er allein ist – und das ist er oft – taucht er ein in seine Welt zwischen Traum und Wirklichkeit. Sein Vater steigt abends aufs Motorrad und klebt die ganze Nacht in der Stadt Plakate. Seine Mutter ist schon gestorben, als er noch klein war. Zum Andenken an sie trägt Hodder stets ihre Damenuhr, die längst kaputt ist, und wird deswegen viel ausgelacht. Eines Nachts erscheint ihm eine Fee und sagt ihm, er sei der Auserwählte, der die Welt erretten wird. Hodder hält das für einen Irrtum, weil er sonst nie auserwählt wird. Höchstens bekommt er den Preis als hässlichster Junge der Klasse, neben Philipp, dem Stärksten, und Alex, dem Schönsten. Und normalerweise wird er immer abgewählt. Wenn in der Schule Mannschaften zusammengestellt werden oder man sich seinen Nebenmann aussuchen darf, bleibt Hodder immer übrig. Ausgerechnet er soll die Welt erretten, wo die anderen immer sagen, er könne kaum ein Wattestäbchen heben. „Ich bin es überhaupt nicht gewohnt, auserwählt zu sein“, gibt er der Fee als Antwort, „Und was die Welt angeht, die ist ja viel größer, als ich erwartet hab.“ Doch die Fee besteht darauf: „Du bist der Auserwählte.“
Schließlich schlägt Hodder den Atlas auf und hält die Lupe über die sehr kleine Insel namens Guambilua im indischen Ozean und beschließt: „Ich werde mit der Errettung von Guambilua anfangen.“ Aber er konnte doch nicht ganz allein bis nach Guambilua fahren. Er musste Leute mitnehmen. Treue Helfer. Wackere Kämpfer. Den Schwergewichtsboxer Big Mac Johnson, seine Klassenlehrerin Asta K. Andersen mit ihrer besonderen Handschrift. Und eigentlich wollte er den Klassenstärksten Philipp mitnehmen, aber der war sozusagen unerreichbar. Als erstes Schrieb Hodder einen Brief nach Guambilua, machte eine Schwalbe daraus und schickt ihn mit einem Orkan auf die Reise. Die Resonanz auf seine Errettungsaktion war gering und Hodder war schon am Aufgeben. Da fragte er die Bäckersfrau, bei der er sich immer eine Streuselschnecke holte: „Wenn Sie die Welt erretten müssten, wo würden Sie dann anfangen?“ Die Bäckersfrau lachte. „Ich glaube, dann würde ich mit mir selber anfangen.“
Die Fee gibt ihm eines Nachts ein Schlüsselbild für seinen Auftrag an die Hand: „Hodder, du bist der Docht. Inmitten der finstren, finstren Welt.“ Und wie durch ein Wunder gewinnt Hodder die Freundschaft von Philipp. Als er für eine Weihnachtsfeier in der Schule seine Kerze vergessen hat, wollen ihn alle von der Feier ausschließen. Da nimmt Philipp eine Kerze und stellt sie zwischen sich und Hodder auf die Bank und meint: „Wir teilen meine Kerze, Hodder und ich.“ Und am Ende kommt ein fremder Schwarzer. Es ist der Häuptling von Guambilua und bedankt sich für den Brief von Hodder, der angekommen war: „Jetzt wissen wir, dass wir nicht vergessen sind. Man denkt an uns in Guambilua.“ Und seit diesem Tag hatte sich Hodder selbst gefunden.
Mit dieser wundervollen Geschichte von einem Außenseiter, der vom Leben benachteiligt ist und dem dennoch etwas Großes zugetraut wird, erzählt Bjarne Reuter den Traum von der Verwandlung eines Menschen: Auch wenn ein Mensch sich noch so klein vorkommt oder klein gemacht wird, durch das Vertrauen, das ihm geschenkt wird, kann er langsam die Welt um sich herum und sich selbst wandeln.
Im heutigen Evangelium erfährt ein Petrus, wie groß Jesus ist und er fühlt sich schwach, begrenzt und sich seiner nicht würdig: „Geh weg von mir, ich bin ein Sünder“, ruft er aus. Petrus weiß um seine Schwächen und Grenzen und kommt sich als kleines Licht vor. Und trotzdem spricht ihm Jesus das große Wort zu: „Von nun an wirst du Menschen fangen.“ D. h. ich brauche dich, gerade dir traue ich – so wie du bist – zu, dass du für die Menschen und für das Reich Gottes wirken kannst. Dieses Vertrauen hat ihn beflügelt und ungeahnte Kräfte für das Leben geweckt.
Liebe Leser, ich glaube nicht, dass Menschen, die einen großen Beitrag für eine menschlichere Welt leisten, sich als die Besten, Gescheitesten und Unentbehrlichsten vorkommen. Ich glaube eher, dass sie erfahren haben, dass sie an einer Aufgabe, die ihnen anvertraut wurde, obwohl sie in vielen Punkte schwach sind, wachsen und von anderswo ihnen die Kraft dazu zuwächst.


Pfarrer Stefan Mai

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