Ein neues Zauberwort in der Kindergartenpädagogik

Predigt zum 4.Sonntag im Jahreskreis

Predigt

Eine begnadete Pädagogin

Am 8.September 1941 ordnete Adolf Hitler die Blockade von St. Petersburg an. Die Stadt sollte nicht zerstört, sondern ausgehungert werden. Niemand durfte aus der Stadt und niemand und nichts in die Stadt. Eine Stadt ohne Wasser, ohne Nachschub an Nahrungsmitteln und drei russische Winter ohne Heizung.
In dieser Woche, am 27.Januar, beging man in St. Petersburg den 60.Jahrestag des Endes der Blockade im Jahre 1944. Die Menschen gedachten der 200.000 Toten in den Massengräbern und Überlebende erinnerten sich an diese grausame Zeit. So auch eine 99-jährige Lehrerin, die jedes Jahr diesen Tag mit Frauen begeht, die damals ihre Schülerinnen waren und die sie heute noch mit einer kindlichen Liebe verehren, fast wie eine Heilige.
Diese Frauen vergessen nie, was ihre Lehrerin damals für sie getan hat und wie sie ihren kindlichen Lebenswillen und ihre Durchhaltekraft gestärkt hat. Viele ihrer Eltern waren bereits tot. Die Lehrerin kümmerte sich nicht nur um die Kinder ihrer Klasse, sondern auch noch um die Kinder eines Kinderheimes. Wie alle anderen Bewohner von St. Petersburg hatte auch sie wenig Brot, um Kindermägen satt zu bekommen. Aber jeden Morgen machte sie sich auf, wusch die Kinder, zog die Kinder – so gut sie konnte – sauber an, redete mit ihnen, sprach sie mit Namen an, nahm täglich jedes dieser Kinder in den Arm, küsste und streichelte es, herzte und scherzte mit ihnen. Und die meisten dieser Kinder überlebten. Diese begnadete Pädagogin wusste intuitiv: Das Überleben der Kinder hängt nicht nur von Nahrungsmitteln ab, sondern in erster Linie vom Lebenswillen und einer starken Durchhaltekraft. Und diese Überlebenskräfte wollte sie in den Kindern stärken. Sie schenkte den Kleinen Geborgenheit, Anerkennung und menschliche Würde mitten in der Not und der Aussichtslosigkeit.

Das Zauberwort Resilienz

Seit einiger Zeit taucht in der Pädagogik ein neues Zauberwort auf: „Resilienz“. Im neuen „Bayerischen Bildungs- und Erziehungsplan für Kinder in Tageseinrichtungen bis zur Einschulung“ sind diesem Wort allein 10 Seiten gewidmet. Besorgt stellen Pädagogen und Psychologen fest, wie verwundbar und verletzbar Kinder sind, wie schnell eine gesunde Entwicklung von Kindern durch schwierige Lebensumstände in den Familien und kritische Lebensereignisse gestört werden kann, wie angstmachend Kinder familiäre Umbrüche und ständige Veränderung ihrer Lebenssituation erleben. Sie beobachten auch, dass auf der einen Seite Kinder daran zerbrechen, auf der anderen Seite trotzdem viele Kinder zu erstaunlich stabilen Persönlichkeiten heranwachsen. Was diese Kinder so stark macht, ist ihre Fähigkeit, mit Belastungen und widrigen Lebensumständen umzugehen. Und diese Widerstandsfähigkeit nennen sie Resilienz. Im bayerischen Bildungsplan wird sie als aller erste Basiskompetenz genannt. Sie soll gefördert werden, indem neben den Eltern die Erzieherinnen dem Kind fürsorglich, unterstützend und einfühlsam begegnen, eine sichere und konstante Betreuung gewährleisten, das Kind absolut wertschätzen, und selbst Widerstandsfähigkeit vorleben.

Zwei resiliente Persönlichkeiten

In den heutigen Lesungen werden uns zwei Menschen vorgestellt, die mit widrigen Lebensumständen zurechtkommen müssen, die angefeindet werden. Sie bekommen die Wut der anderen zu spüren. Beiden will man an den Kragen gehen. Jeremja, der Profet, und Jesus, der Mann aus Nazaret. Beide haben Widerstandsfähigkeit gezeigt. Beeindruckend, wenn Jeremja „befestigte Stadt“ und „eiserne Säule“ genannt wird. Beeindruckend, wenn es im Lukasevangelium heißt: „Sie sprangen auf und trieben Jesus zur Stadt hinaus. Sie brachten ihn an den Abhang des Berges, auf dem ihre Stadt erbaut war, und wollten ihn hinabstürzen. Er aber schritt mitten durch die Menge hindurch und ging weg.“ Ob diese Resilienz, diese Widerstandskraft, durch begnadete Eltern oder Erzieher gestärkt wurde, davon wird uns in der Bibel nichts erzählt. Ein Grund wird jedoch herausgehoben. Ein Jeremja kann an das Versprechen Gottes glauben: „Mögen sie dich bekämpfen, sie werden dich nicht bezwingen; denn ich bin mit dir...“(Jer 1,19) Und ein Jesus wird vom Bewusstsein getragen: „Der Geist des Herrn ruht auf mir.“ (Lk 4,18)

Fürbitten

Herr, unser Gott, jeder Mensch muss in seinem Leben mit widrigen Umständen fertig werden. Wir bitten dich: …

Für alle Kinder, die in ihrer Persönlichkeit verletzt sind durch traumatische Erlebnisse, schwere Lebensbedingungen und geringe Wertschätzung

Herr, erbarme dich ...

Für alle Erzieherinnen, Lehrer und Psychologen, die täglich mit psychisch gestörten und traumatisierten Kindern arbeiten …

Für alle Menschen, die in der nächsten Zeit große berufliche und familiäre Veränderungen durchstehen müssen – und Angst davor haben …

Für uns selbst, die wir nicht wissen, was die Zukunft uns an Schwerem noch abverlangt …

Für eine schwer Leukämiekranke und ihre Angehörigen, die viel Kraft in der nächsten Zeit brauchen …

Darum bitten wir dich durch Christus, unsern Herrn. Amen


Pfarrer Stefan Mai

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