Klingen die alten Wörter noch einmal neu?

Predigt zum 3.Sonntag im Jahreskreis (Neh 8,2-10)

Mit Lisa in der Kirche. Konnte nicht beten. Die feierliche Amtssprache in der Kirche klang fremd. Kunstgewerbe-Vokabular. Luft aus einem Fön. Glauben die Frommen, Gott höre sie nur, wenn sie beten, er habe keine Ahnung von den Worten, die sie sonst denken und sagen? Man kann sich nicht vorstellen, dass der Pfarrer erlebt hat, was er in der Predigt erzählt. Mein Leben ist in der Gebetssprache nicht mehr unterzubringen. Ich kann mich nicht mehr so verrenken. Ich habe Gott in diesen Formeln geerbt, aber jetzt verliere ich ihn durch diese Formeln. Man macht einen magischen Geheimrat aus ihm, dessen verschrobenen Sprachgebrauch man annimmt, weil Gott ja von gestern ist...

Berühmt geworden sind diese Worte aus einem Roman von Martin Walser. Sie beschreiben die Erfahrung vieler Zeitgenossen: Die Worte der Gebetssprache, die Worte der Liturgie, die Worte der Bibel sind uns fremd und schal geworden. Sie sprechen und rühren mich nicht mehr an. Es ist ein Überdruss da am Immer-Gleichen. An diesem Faktum ändern auch die großen Bemühungen eines Bibeljahres, die alten Worte der Schrift neu zum Sprechen zu bringen und die vielen Versuche, Liturgie attraktiver zu gestalten, wenig.
Welche andere Erfahrung wird uns heute in der alttestamentlichen Lesung erzählt. Da ruft der Priester Esra die Menschen zusammen und trägt ihnen die alten Worte aus der Tora vor: Vom frühen Morgen bis zum Mittag las Esra auf dem Platz vor dem Wassertor den Männern und Frauen und denen, die es verstehen konnten, das Gesetz vor. Das ganze Volk lauschte auf das Wort des Gesetzes und alle Leute weinten vor Rührung, so tief trafen die Worte die Herzen. Warum war damals möglich was heute als unmöglich erscheint? Waren die Menschen einfach unkritischer, mit weniger zufrieden oder frömmer?
Wer die Geschichte Israels kennt, weiß, dass das Volk Israel Jahrzehnte in der Fremde war, im Land Babylon, es wurde herausgerissen aus seinen Traditionen, herausgefordert durch fremde Eindrücke und Ansprüche. Viele fragten sich, wo ist denn nun unser Gott, warum ließ er das zu? Aber in der Fremde ging ihnen zugleich auch der Wert ihrer alten Traditionen, ihrer heiligen Schrift neu auf. Und sie fangen in der Fremde an, neu zu reflektieren, die alten Worte neu zu interpretieren, die Geschichte neu zu deuten. Als sie endlich wieder heim dürfen, haben sie große Träume, aber auch da will es nicht so recht vorwärts gehen, die wiedererhaltene Heimat ist zur Bedeutungslosigkeit verurteilt, kein rechter Schwung zu spüren, keine Vision, die Perspektiven aufzeigt. Doch gerade in dieser Situation muss die stundenlange Lesung und Auslegung der alten Worte aus der heiligen Schrift wie ein Aha-Erlebnis gewesen sein. Die Worte des Gesetzes müssen nicht nur die Situation getroffen haben sondern auch die Herzen. Die Menschen müssen gespürt haben: Diese Worte verbürgen uns, Gott ist in unserem Leben mit dabei.
Liebe Zuhörer, für die Israeliten fangen die alten Worte durch die Erfahrung der Fremde neu zu sprechen an. Sie können wieder neu schätzen, welches Geschenk diese ehemals geistige Heimat ihrer heiligen Schriften für ihr aktuelles Leben ist. Die alten Worte werden wieder brandaktuell. Was geschlafen hat, ist wieder zum Leben auferstanden. Es ist als sei das Wort der Schrift für diesen Augenblick der Geschichte aufbewahrt worden, um verstanden zu werden und wirken zu können.
Ich frage mich als Theologe in unserer Zeit: Müssen die Menschen von heute vielleicht diesen Worten noch weiter entfremden, um sie eines Tages als brandaktuelle Neuigkeit für ihr Leben wieder neu zu entdecken. Muss vielleicht die Fremdheit der Symbole und Riten, der Sprache der biblischen Bilder noch weiter voranschreiten, damit eine geeignete Stunde kommt, um wirklich neu gehört und wieder verstanden zu werden, als interessante exotische Botschaft, die neu neugierig macht?


Pfarrer Stefan Mai

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