Die Schlange der Undankbarkeit nicht zubeißen lassen

Silvester 2003

Heiligabend in einer Familie mit drei Kindern. Alles ist gespannt. Das Glöcklein klingelt. Es geht ins Wohnzimmer. Ein besonderer Duft liegt in der Luft, die Beleuchtung verzaubert. Welche Feierlichkeit und innere Freude. Geschenke werden ausgepackt. jeder strahlt und ist überglücklich, die Kinder fallen ihren Eltern um den Hals und freuen sich, dass das Christkind an sie gedacht hat. Sie fangen an, mit den neuen Geschenken zu spielen. Der Große probiert das neueste Computerspiel aus, die Kleinste zieht die Puppe um, füttert sie und legt sie trocken. Aber dann merkt plötzlich der Älteste, dass eines der Geschenke, die er auf seinen Wunschzettel geschrieben hat, fehlt. Und er wird sauer und mosert herum.
Auf einmal fängt auch der Mittlere an, beschwert sich beim Vater, dass er weniger bekommen hat als sein Bruder, dass dessen Computerspiel ja viel schöner ist als seines.
Und schon schleicht die giftige Schlange von Futterneid, von Rivalität und das Gefühl von Benachteiligtsein und Zu-Kurz-Kommen in die noch eben heile Welt, in das Paradies von Freude und Dankbarkeit. Das Ganze endet damit, dass die Frau auch noch bemerkt: Mein Mann hat wieder einmal beim Geschenkaussuchen keine Phantasie gehabt. Und beim Bettgehen stellt sie dann die bohrende Grundsatzfrage, ob hinter einem solchen Geschenk überhaupt „Liebe“ stecken kann.
Ich habe den Eindruck: Diese Spannung zwischen Dankbarkeit und Undankbarkeit ist typisch auch für einen Silvesterabend. Auf der einen Seite hat jeder Grund zum Danken. Aber wie schnell kann das Gefühl kippen, weil einem dann doch Dinge einfallen, die schiefgelaufen sind, wo mir weh getan wurde. Der Weg von Dankbarkeit in die Enttäuschung und Unzufriedenheit ist nicht weit. Und dann wird nicht mehr gesehen, wie der andere sich bemüht hat, sondern es wird nur auf das gestarrt, was er alles nicht getan hat.
Die Liturgie scheint darum zu wissen, wie labil der Gefühlshaushalt von uns Menschen ist. Sie scheint bewusst entgegensteuern zu wollen, damit die negativen Gedanken kein Platzrecht bekommen.
Mehrmals fordert sie bewusst zum Dank auf. Nach der Lesung sprechen wir: „Dank sei Gott“. In der Präfation heißt es: “Lasset uns danken dem Herrn unserm Gott … Es ist würdig und recht. dir zu danken.“ Und ganz am Ende, nach dem Segen, ist das letzte Wort, das der Gottesdienstbesucher spricht: „Dank sei Gott dem Herrn.“
Aus der Weisheit der Liturgie lerne ich. Durch dauernde Kritik und Unzufriedenheit oder Selbstmitleid ändert man nichts. Wer dauernd an sich selbst auszusetzen hat, wer nicht auch für seine guten Seiten – die jeder hat – dankbar sein kann, der wird ewig unzufrieden bleiben. Und wer andauernd andere nur verändern will und an ihnen herumdoktert, der erreicht am Ende nur, dass der andere sich verschließt oder abblockt.
Vielleicht sollten wir am Ende des Jahres um diese Haltung der Dankbarkeit bitten und uns das Paradies nicht durch die Schlange der Unzufriedenheit kaputt machen lassen. Jeder spürt doch, dass ein achtsamer Blick für das Gute auch gute Rückwirkungen auf mich selbst hat – und darauf, wie ich den anderen sehe. Dieser achtsame Blick für das Gute tut mir und anderen gut.


Pfarrer Stefan Mai

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