Predigtreihe zum Advent 2003 – Alles Leben ist Begegnung

3. Adventssonntag: Herausfordernde Begegnung (Lk 3,10-18)

Einleitung

Wenn Sie auf die vergangene Woche zurückschauen, dann fallen Ihnen viele Begegnungen mit Menschen ein: In der Familie, am Arbeitsplatz, auf der Straße. Begegnungen mit vertrauten, bekannten oder auch fremden Menschen. Lassen Sie diese bewusst einmal vor Ihrem Auge vorbeiziehen (---).
Ich denke, Sie stellen fest, dass diese Begegnungen unterschiedlichen Charakter oder unterschiedliches Gewicht hatten: Es gab überraschende Begegnungen, nette Begegnungen, oberflächliche Begegnungen, vielleicht auch Begegnungen, die nachdenklich gemacht haben oder gar einen Stachel in mein Fleisch gesetzt haben. Wenn der Satz von Martin Buber, der über der Predigtreihe steht stimmt: Alles Leben ist Begegnung, dann sind nicht nur die geglückten und beglückenden Begegnungen wichtig, sondern auch gerade die herausfordernden.

Predigt

Welchen Menschen begegnen Sie lieber? Menschen, die Sie blind verstehen, die Ihnen fast die Wünsche von den Lippen ablesen, bei denen Sie das Gespür haben: der schwingt mit mir auf einer Wellenlänge, ja ist sogar mit mir ein Herz und eine Seele - oder Menschen, die mich andauernd hinterfragen, kritisieren, an denen ich mich ständig reiben muss. Eigentlich dumme Frage. Denn die Antwort ist klar.
Im heutigen Evangelium heißt es: Das Volk zog in Scharen zu ihm hinaus...Das Volk war voller Erwartung...Der Anziehungsmagnet, der Mensch, dem man unbedingt begegnen wollte, war jedoch kein Typ, der freundlich, zuvorkommend und lieb war, der mit Menschen besonders einfühlsam umging, sie mit Vorsicht und Samthandschuhen anpackte oder sie gar mit Komplimenten beglückte. Nein, die Menschen zog es hinaus zu Johannes, einem Mann mit Ecken und Kanten, einem etwas ruppigen Typ, der mit seinen Ansichten herausforderte und provozierte und mit seiner Direktheit gewöhnungsbedürftig war. Solche Typen sind nicht jedermanns Sache.

Zu Johannes kommen Menschen mit großer Erwartung. Doch dessen Begrüßungsworte sind alles andere als ein Willkommensgruß: Ihr Schlangenbrut! Zu dem Wüstenmann kommen gutwillige, verunsicherte Menschen, die eine Richtung im Leben suchen. „Was sollen wir tun“, fragen sie? Die Antwort, die sie hören, ist kurz und harsch: „Wer zwei Mäntel hat, der gebe einen davon dem, der keinen hat, und wer zu essen hat, handle genauso.“ Die Ausbeuter der Nation, die Zöllner mit ihrer gewieften Schlitzohrigkeit, zu Geld zu kommen, ohne groß dafür schwitzen zu müssen, bekommen zu hören: „Verlangt nicht mehr, als festgesetzt ist.“ Und die nicht gerade zimperlichen Soldaten schickt er mit der Antwort nach Hause: „Misshandelt niemand, erpresst niemand, begnügt euch mit dem, was euch zusteht.“ Johannes erwischt in der Begegnung genau den wunden Punkt oder den berühmten blinden Fleck seiner Besucher und rüttelt sie dadurch wach.

Wir begegnen heute als Menschen des 21.Jahrhunderts dieser Botschaft des Johannes, die sich geradezu als alternatives Drei-Punkte-Programm zusammenfassen lässt.
„Wer zwei Mäntel hat, der gebe einen davon dem, der keinen hat, und wer zu essen hat, handle genauso!“
Ich wage es mir gar nicht auszumalen, wenn dies zu einer Grundhaltung in unserem Volk würde. Dann würden schlagartig die Diskussionen um Sozialreformen und Renten anders verlaufen. Sie würden andere Ergebnisse zeitigen, als wenn die Vertreter aller Lobbys vorwiegend darauf bedacht sind, möglichst wenig herzugeben und vorwiegend der Gegenseite die Mäntel abzuverlangen.
„Verlangt nicht mehr, als festgesetzt ist.“ Wenn das ein Grundkonsens wäre in der Bewertung und Bezahlung der Arbeit, die man leistet und dem Geld, das man dafür bekommt, dann würde die Schere zwischen denen, die redlich arbeiten, ja manche Drecksarbeit verrichten und immer weniger dafür bekommen sollen und denen, die mit möglichst wenig Arbeit immer mehr Gewinn abschöpfen möchten, nicht immer weiter aufreißen.
„Misshandelt niemand, erpresst niemand, begnügt euch mit dem, was euch zusteht.“ Wenn das zu einer Grundhaltung werden würde, dass der eine nicht als des anderen Feind in einem gnadenlosen Konkurrenzkampf gesehen würde, dann kämen wir womöglich über manche verdeckte Grabenkämpfe hinaus.

Liebe Leser, es ist verständlich, wenn wir normalerweise gerne in der Begegnung mit Menschen Bestätigung unserer selbst erfahren und hören wollen, was für uns angenehm ist. Aber die Begegnung der Leute von Jerusalem und dem kantigen Johannes vor Augen wird mir klar: Es gibt keine Entwicklung zu einer größeren Gerechtigkeit und Menschlichkeit in unserer Gesellschaft, wenn uns nicht Menschen in herausfordernden Begegnungen auf manch blinden Fleck hinweisen und uns ungeschminkt dies wie einen Spiegel vor Augen halten würden, egal, was wir von ihnen denken.

Fürbitten

Herr, unser Gott, in der vergangenen Woche sind mir viele Menschen begegnet. Für sie bitten wir heute:

V/A: Denk an sie

Für alle, die mit mir gelacht haben
Für alle, mit denen ich diskutiert habe
Für alle, denen ich zufällig begegnet bin
Für alle, mit denen ich ein gutes Gespräch hatte
Für alle, die mich korrigiert und kritisiert haben
Für alle, denen ich am liebsten aus dem Weg gegangen wäre
Für alle, die einen glücklichen und zufriedenen Eindruck machten
Für alle, die Sorgen niederdrücken oder große Probleme haben
Für alle, über die ich getratscht habe
Für alle, die ich besucht habe
Für alle, die in meine Wohnung kamen
Für alle, die mir wichtige Impulse gaben
Für alle, die mir weh getan haben
Für alle, denen ich weh getan habe


Pfarrer Stefan Mai

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