Predigtreihe zum Advent 2003 – Alles Leben ist Begegnung

1.Adventssonntag: „Es knospt unter den Blättern...“

Einleitung

In den Städten haben in dieser Woche die Weihnachtsmärkte geöffnet, die Beleuchtung, die Musik, der Duft an den Ständen bringen Menschen in eine besondere Stimmung. Besonders an den Abenden, wenn es dunkel wird, wird diese Stimmung als wohltuend erlebt. Für viele Menschen ist ein Bummeln über den Weihnachtsmarkt wie ein Spaziergang in einer anheimelnden paradiesischen Welt.
Zu dieser Stimmung passen die liturgischen Texte des ersten Advents wie die Faust aufs Auge. Da ist von einer Untergangsstimmung die Rede: von Angst, Bestürzung und Erschütterung – und trotzdem von Mut, Befreiung und Erlösung.

Predigt

Die meisten Menschen können dem Frühherbst noch schöne Seiten abgewinnen: die milden Sonnenstrahlen, so manch schönen Altweibersommertag, die bunten Farben der Wälder, das besondere Licht. Doch je älter der Herbst wird und auf den Winter zugeht, verliert er diese Reize. Es wird ungemütlich und kalt, die Vögel hören zu singen auf, es wird neblig und grau, der Herbstwind treibt die Blätter von den Bäumen und fegt sie leer. Am Ende stehen sie wie knöcherne Besen da. In den Parkanlagen und Wäldern ein modriger Geruch. Ein Bild und eine Atmosphäre des Vergehens und des Absterbens.

Mit einem nur dreizeiligen Gedicht hebelt die Lyrikerin Hilde Domin diese gängige Sichtweise aus, zwingt zum genaueren Hinschauen und provoziert zu einer neuen Sichtweise. Es beginnt mit den Worten:

Es knospt
unter den Blättern...

Wie würden Sie diese Zeile fertig schreiben? (---)

Es knospt
unter den Blättern...

Bei Hilde Domin heißt der Schluss:

Es knospt
unter den Blättern,
das nennen sie Herbst.

Verrückt, meint Hilde Domin: Es knospt unter den Blättern, es ist Leben da. Aber die Menschen sehen nur welkende und absterbende Blätter und das herbstliche Sterben der Natur. Mehr nicht. Sie entdeckt dagegen mit ihrem wachsamen Blick unter den sterbenden Blättern des Herbstes schon die Knospen des kommenden Frühjahrs, entdeckt mitten im Sterben Leben und Lebenszeichen.
Mit ähnlicher Aufmerksamkeit schreibt Luise Rinser: „Natürlich weiß ich, dass ich sterben muss. Aber was heißt das? Wer, wie ich, auf dem Land aufgewachsen ist und dort den Auf- und Abstieg der Jahreszeiten erlebt, und wer es mit Tieren und Pflanzen zu tun hat, der kann nicht übersehen, dass alles zum Sterben hin lebt. Er weiß aber auch, dass das biologische Sterben eine Uneigentlichkeit hat, die nur flüchtige Trauer zulässt: die Frucht, die stirbt, der Same überlebt; in der scheintoten Knospe wächst die Blüte, das Blatt, die Frucht; Abgestorbenes verfault, wird zur Erde und steigt in der von ihm genährten Pflanze wieder ans Licht; nichts geht ins nichts; Sterben bedeutet nirgendwo das absolute Ende. Der aus der Natur herausgefallene Mensch sieht jedoch nichts als Schutthaufen, Autofriedhöfe, Müllabfuhr mit unbekanntem Ziel; er sieht Dinge, die zu kurzem Gebrauch bestimmt sind und, unbrauchbar geworden, zerstört werden. Ich sehe überall Leben...Ich weiß, dass ich, unaufhörlich auferstehe.“

Der alte Brauch zum Barbaratag, einen kahlen Kirschzweig ins Warme zu stellen und zu beobachten, wie aus dem scheinbar toten Gehölz wieder Leben und Blüten hervorsprießen, will eigentlich nichts anderes als die beiden Dichterinnen mit ihren Worten versuchen:
Er lädt ein zu einem wachsamen Blick, nicht nur vordergründig zu denken und flüchtig zu schauen. Er will Mut machen in schwierigen Lebenssituationen nicht nur Zeichen des Verfalls, nicht nur sinnlose Zumutungen des Lebens zu sehen. sondern mitten in der Ausweglosigkeit neue Hoffnungsansätze, mitten in der Nacht schon Ansätze eines neuen Tages zu sehen.
Die Barbaralegende erzählt: Auf dem Weg ins Gefängnis verfing sich ein Kirschzweig in Barbaras Kleid. Sie stellte ihn in ihrer Zelle in einen Krug mit Wasser. Knospen trieben hervor. Eines Tages sprangen sie auf. Zarte weiße Blüten sprossen im Winter. „Du schienst wie tot“, sagte Barbara zum Zweig, „aber aus totem Holz ist neues Leben entsprungen. Ich glaube, so wird es auch mit mir sein. Wenn sie mich töten, dann wird mein Tod das Tor zum Leben.“


Pfarrer Stefan Mai

© Stefan Mai 2001 - 2024
Alle Rechte vorbehalten.
Vervielfältigung nur mit Genehmigung von Pfarrer Stefan Mai.

www.stefanmai.de