Was zählt?

Predigt zum Allerseelentag 2003 (Evangelium: Mk 12,28-31)

Die härteste Konfrontation mit dem Leben ist immer die Konfrontation mit einem Toten. Denn der Tote in seiner Stille stellt noch mit seinen geschlossenen Augen und seinem geschlossenen Mund große Fragen. Im Leben kann man ihnen oft geschickt ausweichen, aber ein Toter fragt hartnäckig, ob du willst oder nicht! Er fragt nämlich: Was zählt am Ende eines Lebens?
Vor einem Toten wird einem schnell bewusst: Es zählt nicht, wie viel Geld ich auf meinem Sparkonto liegen habe; es zählt auch nicht, wie viele Beförderungen ich in meinem Beruf zustandegebracht habe; es zählt nicht, was ich alles im Leben erreicht habe. Was zählt, ist, ob ich im Moment meines Todes mir sagen darf: Ich kann zufrieden und in Frieden auf mein Leben schauen: in seinen Höhen und Tiefen, in seiner Größe und Schwäche, in seinen Erfolgen und Niederlagen. Beim Anblick eines Toten wird mir immer bewusst, was zählt. Aber die Frage bleibt: Wie kann ich das erreichen?

Der große Philosoph Ludwig Feuerbach meinte: „Deine erste Pflicht ist es, dich selber glücklich zu machen. Wenn du glücklich bist, wirst auch du anderen zum Glück verhelfen.“ Es stimmt: Wie kann einer im Leben zufrieden sein, wenn er nicht selbst Glück im Leben erfahren hat? Wie kann einer in Frieden leben, wenn er selbst nicht zufrieden ist? Und das Leben zeigt es, wie sauertöpfisch und unausstehlich Menschen werden können, wenn sie sich selbst nichts gönnen, wenn sie sich immer selbst hintanstellen. Hier gehe ich mit einem Ludwig Feuerbach völlig d´accord. Aber wie leicht kann diese erste Pflicht, sich selbst glücklich zu machen, in eine rücksichtslose Gier verwandeln, wenn sie im Sinne „Hauptsache ich bin glücklich“ verstanden wird und selbst nur Glückserfahrungen jagen und für sich horten will und dabei alle anderen ausblendet. Zum Lebensglück und zur Lebenszufriedenheit muss noch eine andere Seite dazukommen.

Als die Schriftstellerin Christa Wolf vor Jahren den Nelly-Sachs Preis in Empfang nahm, sagte sie in ihrer Dankesrede: „Leider ist bei vielen Menschen die Sehnsucht, glücklich zu sein viel größer, als die Sehnsucht, gut zu sein. “Nicht Lebensglück für sich allein wollen führt zur Erfüllung der Glückssehnsucht, sondern Güte weiterschenken. Davon ist Christa Wolf überzeugt.

Meisterhafter und prägnanter kann ich mir den Ratschlag zu echter Lebenszufriedenheit und Lebensglück nicht vorstellen als ihn Jesus so spannungsreich formuliert hat: „Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst!“


Pfarrer Stefan Mai

© Stefan Mai 2001 - 2024
Alle Rechte vorbehalten.
Vervielfältigung nur mit Genehmigung von Pfarrer Stefan Mai.

www.stefanmai.de