Das Grab – überflüssig oder ein Segen?

Predigt zur Gedenkfeier für die Verstorbenen am Allerheiligentag 2003

Einleitung

Wer vor zwei- oder dreihundert Jahren auf einem Dorf zum Gottesdienst in die Kirche ging, der musste, bevor er die Kirche betrat, durch den Friedhof gehen. Denn die Gräber wurden um die Kirche herum angelegt. Und es war üblich: Zuerst ging man ans Familiengrab, spritzte Weihwasser, dachte an seine Toten und sprach ein Gebet. Das hat sich inzwischen gewaltig geändert. Die Friedhöfe „wanderten“ Stück für Stück aus dem Zentrum der Dörfer und Städte hinaus. Am beliebtesten sind die Waldfriedhöfe, die nur noch mit dem Auto zu erreichen sind, eher wie Parkanlagen gestaltet sind und eher dazu einladen, spazieren zu gehen als an die Toten und das Sterben zu denken.
Heute ist der wieder der traditionelle Tag für den Friedhofsbesuch, für uns einmal eine Gelegenheit über den Sinn von Gräbern nachzudenken.

Predigt

Ich weiß nicht, ob Sie gerne Friedhöfe besuchen. Ich weiß nicht, mit welchem Gefühl Sie auf den Friedhof gehen. Ob es für Sie wie eine Meditation ist oder ob es Sie traurig macht. Ich weiß nicht, wie Sie damit umgehen, wenn Sie die Namen der vielen Toten lesen. Was es mit Ihnen macht, wenn Sie auf einem Grabstein den Namen eines Menschen sehen, der ganz jung gestorben ist. Ich weiß nicht, ob Sie dann über die Fragen, die Ihnen dabei kommen, mit anderen reden können. Oder ob Sie am liebsten einen großen Bogen um den Friedhof machen.
In Deutschland wollen viele Menschen ihren Angehörigen so einen Friedhofsgang nicht mehr zumuten. Sie wollen ihnen diese unguten Gefühle ersparen. Sie haben Angst, dass ihr Grab für ihre Kinder später einmal eine große Belastung ist und es am Ende ungepflegt bleibt. Aus ist aus, sagen sich viele. Wozu denn noch der ganze Erinnerungskult mit den Gräbern? Wozu die teueren Grabsteine? Wozu von den Angehörigen verlangen, Mühe und Zeit zu opfern, um das Grab zu pflegen? Manche müssten dazu sogar noch von weither anreisen.
Die sollen doch lieber ihre Kraft für ihre Aufgaben und ihre ohnehin eng bemessene Zeit für ihre Familie nutzen, wird weiter argumentiert. Und deshalb gibt es einen neuen Trend: die anonyme Beerdigung. Die Urne wird auf einer großen Wiese beigesetzt. Außer dem Friedhofsverwalter braucht niemand zu wissen, wo das Grab ist. Tot ist tot. Die Lebenden sollen sich ums Leben kümmern.
So einleuchtend das klingt, so einfühlsam und entlastend das für die Angehörigen sein soll – ich frage mich, ob wir uns dabei nicht selber in die Tasche lügen. Ob wir wirklich wollen, dass es keinen Ort gibt, der an uns erinnert. Ob wir den Angehörigen einen Gefallen erweisen, dass sie nichts mehr für uns tun brauchen? Ob es für die Bewältigung der Trauer gut ist, einfach wie vom Erdboden verschluckt zu sein?
Ich glaube es nicht. Ich glaube, dass es einen Ort geben muss, zu dem ich kommen kann, um mich an den Verstorbenen zu erinnern; einen Ort, an dem Bilder von ihm aufsteigen und mir Worte von ihm wieder in den Sinn kommen; wo ich in Gedanken mit ihm reden kann. Ich glaube, dass es einen Ort geben muss, der mir deutlich macht: Du wohnst nicht mehr unter uns, aber ich kann zu dir kommen, ich kann symbolisch mit dir in Kontakt treten und auch nach deinem Tod für dich noch etwas Gutes tun.
In ganz einfachen Worten erzählt ein modernes Gedicht von Lutz Rathenow (geb. 1952), welcher Segen für einen Enkel das Grab seines Opas ist. Das Gedicht heißt “Am Grab“:
Der Enkel, sehr klein
und gar nicht richtig traurig,
er harkt die Erde über Opa.
Langsam, nicht zu sanft,
vor allem gleichmäßig, so
hat es Großvater immer gern,
wenn er seinen Rücken kratzt.
Und manchmal, mit dem kleinen Finger,
kitzelt Enkel seinen Opa. So wie immer.
Das Grab ist mehr als Totenkult. Das Grab ist ein Ort, der mir klipp und klar macht: Der Tote ist am anderen Ufer des Lebens. Aber das Grab ist eine Brücke zu ihm. Der Tote kann nicht zu uns herüber. Wir nicht hinüber. Aber wir können über das Grab, die Pflege, das Verweilen und unsere Gespräche dort mit ihm in Verbindung bleiben.
Das Grab ist überflüssig, sagen immer mehr Menschen in unserer Gesellschaft. Ich behaupte. Das Grab ist notwendig – nicht für die Toten, sondern für uns Lebende.

Fürbitten

Wir rufen zu Gott, der uns nach unserem Tod beim Namen nennt

Wir beten für alle Menschen, die wir im Leben gern gehabt haben und die auch nach ihrem Tod in unseren Herzen einen besonderen Platz besitzen.
V/A: Gott, denk an sie
Wir beten für alle Menschen, die längst vergessen sind und an die sich niemand mehr erinnert
A: Gott, denk an sie
Wir beten für alle, die in den Kriegen vermisst wurden und deren Grab niemand kennt und für alle, die Opfer von brutaler Gewalt wurden und irgendwo verscharrt worden sind
A: Gott, denk an sie
Wir beten für alle Künstler, Bildhauer und Landschaftsgärtner, die auch heute bewusst durch die künstlerische Gestaltung von Friedhofsanlagen und Gräbern die einmalige Würde eines jeden Menschen und die Hoffnung auf ein Leben nach dem Tod zum Ausdruck bringen möchten
A: Gott, denk an sie
Wir beten für alle Beschäftigten der Beerdigungsinstitute und auf den Friedhöfen, die täglich toten Menschen ins Auge schauen müssen und täglich Trauernden begegnen
A: Gott, denk an sie
Wir beten für alle Menschen, die es nicht möchten, dass einmal ein Grab oder der Name auf einem Stein an sie erinnert
A: Gott, denk an sie
Wir beten für alle Menschen, die oft zu den Gräbern ihrer Angehörigen gehen und die auf diesem Weg die Trauer um ihre Verstorbenen bewältigen und die Verbindung zu ihnen halten möchten
A: Gott, denk an sie

Du, Herr über Leben und Tod, darauf vertrauen wir: Wenn wir einmal vergessen sind und vergangen, dann wirst du uns bergen in deiner Treue. Amen


Pfarrer Stefan Mai

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