Kleine Heilige

Predigt zum Allerheiligenfest 2003 (Mt 5,1-12)

Es war einmal ein kleiner Junge, der unbedingt Gott treffen wollte. Er war sich bewusst, dass der Weg zu dem Ort, an dem Gott lebte, ein sehr langer war. Also packte er sich einen Rucksack voll mit einigen Coladosen und mehreren Schokoladenriegeln und machte sich auf die Reise.
Er lief eine ganze Weile und kam in einen kleinen Park. Dort sah er eine alte Frau, die auf einer Bank saß und den Tauben zuschaute, die vor ihr nach Futter auf dem Boden suchten. Der kleine Junge setzte sich zu der Frau auf die Bank und öffnete seinen Rucksack. Er wollte sich gerade eine Cola herausholen, als er den hungrigen Blick der alten Frau sah. Also griff er zu einem Schokoriegel und reichte ihn der Frau. Dankbar nahm sie die Süßigkeit und lächelte ihn an. Und es war ein wundervolles Lächeln. Der kleine Junge wollte dieses Lächeln noch einmal sehen und bot ihr eine Cola an. Und sie nahm die Cola und lächelte wieder, noch strahlender als zuvor.
Der kleine Junge war selig. Die beiden saßen den ganzen Nachmittag lang auf der Bank im Park, aßen Schokoriegel und tranken Cola – aber sprachen kein Wort.
Als es dunkel wurde, spürte der Junge, wie müde er war und er beschloss, nach Hause zu gehen. Nach einige Schritten hielt er inne und drehte sich um. Er ging zurück zu der Frau und umarmte sie. Die Frau schenkte ihm dafür ihr allerschönstes Lächeln.
Zu Hause sah seine Mutter die Freude auf seinem Gesicht und fragte: „Was hast du denn heute gemacht, dass du so fröhlich aussiehst?“ Und der kleine Junge antwortete: „Ich habe mit Gott zu Mittag gegessen – und sie hat ein wundervolles Lächeln!“
Auch die alte Frau war nach Hause gegangen, wo ihr Sohn schon auf sie wartete. Auch er fragte sie, warum sie so fröhlich aussah. Und sie antwortete. „Ich habe mit Gott zu Mittag gegessen – und er ist viel jünger, als ich gedacht habe.“

Eine Geschichte, die etwas ganz Alltägliches und doch etwas Besonderes erzählt. Eine Geschichte, die eine Verständnisbrücke zum Fest Allerheiligen sein kann. Denn sie behauptet: Immer wieder versteckt sich Gott in Menschengestalt und will von uns entdeckt werden. An solche Menschen denken wir heute. Wir nennen sie Heilige. Heilige sind Menschen, bei denen man in der Begegnung das gleiche Gefühl hat wie der kleine Junge oder die alte Frau: Ich habe Gott getroffen. Um diesen Eindruck zu haben, muss man nicht in Heiligenbiographien lesen, man muss nicht gleich an Maximilian Kolbe oder Mutter Teresa denken, die mit ihrem Charisma Großes geleistet haben. Menschen, an die das Fest Allerheiligen erinnern möchte, haben meist nichts anderes getan, als im übertragenem Sinn ihre „Schokoriegel“ und ihr „Cola“ geteilt, und anderen ihr „Lächeln“ geschenkt. Heilige sind Menschen, die durch die Selbstverständlichkeit ihres Glaubens etwas ausgestrahlt haben, die Güte ohne Hinterabsichten verschenkt haben, die Friede und Ruhe lebten, ohne zu meinen, sie tun etwas besonderes. Heilige sind Menschen, die ihren Überzeugungen treu geblieben sind, auch wenn nichts damit zu verdienen war; Menschen, die durch ein gutes menschliches Leben ohne Worte von Gott erzählt haben.

„Ich habe mit Gott zu Mittag gegessen – und sie hat ein wundervolles Lächeln.“
„Ich habe mit Gott zu Mittag gegessen – und er ist viel jünger als ich gedacht habe.“

(Nach einer Idee von Heribert Arens, PuK Heft 6/2003, S.801 ff)


Pfarrer Stefan Mai

© Stefan Mai 2001 - 2024
Alle Rechte vorbehalten.
Vervielfältigung nur mit Genehmigung von Pfarrer Stefan Mai.

www.stefanmai.de