Zwei verschiedene Lesarten

Predigt zum Weltmissionssonntag 2003 (Mk 10,46-52)

Einleitung

„Dem Wort vertrauen“ – so lautet das Motto des diesjährigen Weltmissionssonntags. Es ruft in Erinnerung, dass das Buch der Bibel uns Christen über alle Kulturen und Sprachen hinweg verbindet, dass Menschen auf der gesamten Welt aus diesem Wort Gottes leben, Ermutigung und Trost, Anregung und Impulse, aber auch Kritik und Infragestellung erfahren.
Der Weltmissionssonntag versucht aber auch über das Gemeinsame und Verbindende hinweg auf das Besondere der jeweiligen Kulturen aufmerksam zu machen. So stehen in diesem Jahr die Christen in Asien im Vordergrund. Ich denke, es ist sehr anregend, wenn wir uns im Jahr der Bibel an diesem Weltmissionssonntag einmal darauf einlassen, wie Christen in Asien sich der heiligen Schrift nähern und mit ihr umgehen. Vielleicht ist das auch eine Anregung für uns, damit uns Gottes Wort als Wort des Lebens und als Wort zum Leben aufgeht.

Predigt

Die Schüler malten ihre Bilder im Religionsheft farbig aus und ich ging durch die Reihen und schaute über die Schultern, ob sie ihre Aufgabe auch ordentlich erledigen. „Fertig“, meinte ein Bub und legte den Buntstift aus der Hand. Ich schaute auf das Bild und war ein wenig verdutzt. „ Da gibt es doch noch so viel auszumalen“, konterte ich, weil ich gleich innerlich argwöhnte, da ist ein Schlingel wieder nur zu faul, seine Aufgaben zu erledigen. Aber der Bub schaute mich an und bestand darauf: „Das Bild ist fertig. Ich liebe es, wenn auf dem Bild viel weiß bleibt!“

Mir ist diese Religionsstunde sofort eingefallen, als ich bei einer chinesischen Theologin las, woran sie den Unterschied zwischen der westlichen und chinesischen Malerei festmacht. Sie meint, bei der chinesischen Gemälden ist das Seidentuch oder das Papier nie ganz mit Farbe bedeckt. Es wird immer sehr viel Raum ausgespart, ja oft bleibt mehr unbemalte als bemalte Fläche. Dieser freie Raum auf dem Bild ist jedoch kein überflüssiger oder hilfloser Leerraum, sondern drückt Offenheit aus, er ist ein freies Feld der Möglichkeiten. Er bildet eine harmonische Einheit mit den wenigen Farbstrichen und zieht mich als Betrachter mit meiner Phantasie in das Bild zum Weiterentwickeln mit hinein. Das Bild soll im Kopf und im Herzen weitergemalt werden.

Deshalb schätzen die Chinesen den freien Raum und das Schweigen. Sie lieben es nicht, lange Kommentare zu ihren religiösen Schriften zu verfassen. Die Wirksamkeit einer Geschichte oder einer Lehrweisheit sehen sie nicht in der Eindeutigkeit sondern mehr in der Offenheit, die zum Weiterdenken anregt. Die Zen-Meister vertrauen deshalb gern ihren Schülern ein koan an, einen Weisheitsspruch, der scheinbar unverständlich ist. Ein Beispiel:
Eines Tages besuchte ein Mönch einen Zen-Meister und sagte: „Ich komme hierher mit leeren Händen.“ Der Zen-Meister erwiderte: „Leg es nieder.“ „Ich sagte doch schon, dass ich mit leeren Händen gekommen bin. Was also soll ich niederlegen?“, fragte der Mönch. „Wenn du es nicht niederlegen willst, nimm es wieder mit und geh!“
„Wenn du es nicht niederlegen willst, nimm es wieder und geh!“ Der Schüler, der meint, er stehe mit leeren Händen da, kann diesen Spruch nicht sofort verstehen. Er muss ihn auswendig lernen und ihn stunden- und tagelang meditieren, in der Hoffnung mehr und mehr die Bedeutung des Spruches für das Leben zu erahnen. „Erleuchtung“ durch den Weisheitsspruch und „Erwachen“ dessen, der ihn meditiert hat, ist das Ziel.

Auf dem Hintergrund dieser Tradition und Mentalität gehen die Christen in Asien auch anders mit dem Wort der Heiligen Schrift um als wir. Wenn sie sich zum Bibelgespräch treffen, wird ein- und derselbe Text nacheinender von verschiedenen Personen gelesen. Dazwischen Stille. Jeder spricht jedem Gottes Wort zu und bekommt es vom anderen gesagt. Und immer wieder dazwischen der Leerraum der Stille. Sie sind überzeugt, Gottes Wort braucht diesen Raum, um sich in mir zu entfalten. Es braucht diesen Raum, um in die Tiefe zu gehen, um vor allem das Herz zu berühren. Sie verstehen das Wort Gottes als liebenden Zuspruch von Herz zu Herz und lernen deshalb viele Passagen des Evangeliums auswendig. Sie möchten die Worte in ihrem Herzen bewahren, sie verinnerlichen. Diese sollen Begleiter und Richtungsweiser in ihrem Leben sein.

Mit unserer europäischen Denkart stehen wir im Verhältnis zur Heiligen Schrift in zwei Gefahren:
Eine erste Gefahr ist, die biblischen Geschichten als allzu bekannt hinzunehmen. Sie lassen nur noch selten aufhorchen. Und wenn wir ein Textpassage einmal nicht verstehen, dann reiben wir uns nicht an ihr. Vielmehr lassen wir sie dann links liegen. Wir vertrauen nicht darauf – wie es die Christen in Asien tun –, dass gerade die Worte, an denen wir uns stoßen, uns viel zu sagen haben und geben ihnen oft nicht den nötigen Freiraum, dass sie in uns arbeiten und weiterwirken können.

Die zweite Gefahr ist. Wir können uns vor allem an einer berühmten Frage ereifern, an der Frage: Ist das wirklich genauso passiert wie es hier steht? Wir beißen uns an der Frage fest: Stimmt das überhaupt, dass der Blinde wirklich wieder gesehen hat? Und schnell sind wir dann am Folgern: Wenn das nicht so passiert ist, wie es wortwörtlich dasteht, dann ist es ein Märchen oder gar eine Lügengeschichte und hat mir eigentlich nichts zu sagen. Dadurch vermeiden wir, uns in die Geschichte hineinziehen zu lassen, uns selbst als Blinden zu sehen, eigene blinde Flecken zu entdecken und uns zu fragen, wo uns vielleicht durch die Worte Jesu eine neue Sichtweise geschenkt werden könnte.

Vielleicht ist es heute am Weltmissionssonntag einmal eine gute Übung, mit den Ohren eines Christen aus Asien auf das Evangelium zu hören, nach einzelnen Sätzen Stille zu halten, um das Wort wirken zu lassen, den Leerraum als Chance zu sehen, das Empfinden für das Ungesagte zu schärfen.


Langsames Vorlesen des Evangeliums Mk 10,46-52 – Unterbrechungen – Stille


Fürbitten

Lasst uns voller Vertrauen zu Gott beten, der uns in seinem Wort gegenwärtig ist.

Für alle, die in Staat und Gesellschaft Verantwortung tragen, dass ihr Handeln vom Geist deines Wortes geleitet ist, der Wege des Friedens und der Versöhnung weist

Für die Kirche auf der ganzen Welt, dass sie sich bewusst deinem Wort stellt und sich immer wieder neu daran ausrichtet

Für alle, die Woche für Woche das Evangelium auslegen, dass dein Wort ihnen selbst Nahrung ist und sie es verstehen, rechte Worte zur rechten Zeit zu finden, um die Herzen von Menschen zu erreichen.

Für die Menschen auf der ganzen Welt, die im Buch der Bibel lesen, dass es ihr Leben bereichert und in das Leben hineinwirkt.

Für unsere Verstorbenen, dass sie die Verheißungen der heiligen Schrift als die große Erfüllung ihres Lebens erfahren.

Darum bitten wir heute durch Christus unsern Herrn.


Pfarrer Stefan Mai

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