Helala geht zur Schule

Predigt zum Caritas-Sonntag am 28.09.03 (Lesung: Vorwort Sir; Ev.: Mk 9,36f)

Einleitung

In Deutschland wird heute in der katholischen Kirche der Caritas-Sonntag begangen. Von meinem Gefühl her hat er keine besondere Bedeutung im Bewusstsein der Gläubigen. Irgendwie hat Caritas halt mit Not und Geld sammeln zu tun. Kaum im Bewusstsein ist, dass wir in St. Maximilian Kolbe ein große Caritas-Einrichtung haben: Unseren Kindergarten. In diesem Jahr ist er bereits 20 Jahre alt geworden. Ganz bewusst haben wir uns vor 5 Jahren für den Namen KiZ entschieden, „Kind im Zentrum“. Tag für Tag wird hier Dienst für 130 Kinder und fast ebenso viele Familien geleistet. Er fordert von unseren Erzieherinnen und auch von mir als Pfarrer, auf Strömungen unserer Gesellschaft zu reagieren, Probleme und Nöte von Familien zu sehen und darauf Antworten zu geben. Was mir als Trägervertreter bei der derzeitigen Bildungsdiskussion sehr stark durch den Kopf geht ist die Frage: Was heißt Menschenbildung nach dem Vorbild und Beispiel Jesu?

Predigt

Der bekannte evangelische Theologe Jörg Zink, ein Kenner des Landes Israel und der Wüste, erzählt von einem Deutschen, der bei einer Beduinenfamilie zu Gast war, um das harte Leben in der Wüste näher kennen zu lernen. Die Jüngste der Familie, Helala mit Namen war gerade drei Monate alt. Der Gast saß mit dem Familienoberhaupt Salem im Zelt und erkundigte sich nach seiner Familie. „Wo ist denn die Kleinste?“ fragte er. Salem antwortete: „Sie geht zur Schule.“ „Zur Schule?“ fragte der Gast erstaunt. „Ein Kind von drei Monaten geht zur Schule. Und dazu noch hier in der Wüste?“ „Ja, sie geht zur Schule“, wiederholte Salem. „Die Mutter trägt sie im Rückentuch und nun sind sie beide unterwegs. Helala lernt die Stimmen der Ziegen und die Farben der Erde, den Geruch des Wassers und die Spuren im Sand. Das muss sie unterscheiden können, sonst kann sie hier nicht leben.“

Mich fasziniert dieser Bildungsbegriff dieses einfachen Beduinen. Bildung heißt nach seiner Auffassung: Ein Kind erfährt bei seinen Eltern Geborgenheit, es wird getragen. Und es darf den Eltern bei ihrer täglichen Arbeit quasi über die Schultern schauen. Und dabei erlernt das Kind die Grundlagen seines Lebens.
In unserem Land ist seit der PISA-Studie das Geschrei groß. Das Volk der „Denker und Dichter“ rangiert in Sachen Bildung „unter ferner liefen“. Unser Bildungssystem läuft falsch, heißt es. Die Kinder und Jugendlichen lernen zu wenig, sind nicht genügend motiviert, sind zu wenig auf das Berufsleben vorbereitet. Die Politik wird nervös. Die Kultusministerien diskutieren sich die Köpfe heiß. Bildungsstrategien werden geschmiedet und enorme Anstrengungen versprochen, die angemahnten Defizite auszugleichen.
Aber irgendwie bekomme ich die Befürchtung nicht los: Bildung wird bei den Diskussionen zu eng verstanden als Aneignung von Wissen und dies möglichst umfassend, effektiv und schnell. Irgendwie habe ich Angst, es geht am Ende nicht um die Persönlichkeiten der Kinder und Jugendlichen sondern eher darum, Kinder möglichst früh und umfassend auf die Schulfähigkeit vorzubereiten, um Leute heranzubilden, die unser Wirtschaftssystem voranbringen und leistungsstark sind. Irgendwie befürchte ich, wir bauen und sanieren das Haus der Bildung, ohne genügend darauf zu achten, auf welchem Fundament es aufgebaut wird.
Wenn es stimmt, was Prof. Fthenakis vom Staatsinstitut für Frühpädagogik auf einer Fachtagung Mitte September in Würzburg gesagt hat, dann stünde vor aller Bildungsreform eine Werte- und Bewusstseinsreform unserer Gesellschaft. Er stellte die Thesen aus: Ein Viertel der Kinder unseres Landes entwickeln keine stabile Bindung zu ihren Eltern mehr. Kinder stehen nicht mehr im Mittelpunkt unserer Gesellschaft, sondern die Erfüllung individueller Bedürfnisse auf hohem Niveau. Kinder werden immer stärker von Konstrukten ihrer Umwelt beeinflusst, nicht durch die innere Entwicklung.
Wenn diese Behauptungen stimmen, dann gäbe es nur eine Konsequenz: Vom heutigen Evangelium wieder erneut lernen, das Kind in die Mitte der Gesellschaft und des öffentlichen Bewusstseins zu stellen und es spüren zu lassen: Du bist etwas ganz Besonderes, Einzigartiges und Wichtiges.
Denn nur mit dieser Achtung erfahren Kinder Sicherheit und Geborgenheit. Nur auf dieser Basis kann bei Kindern Freude über eigene Begabungen geweckt und Selbstvertrauen in eigene Handlungsfähigkeiten gestärkt werden. Diesem Auftrag des Evangeliums sind wir als kirchlicher Kindergartenträger verpflichtet. Allein daran müssen wir uns messen lassen.
Ich werde den Bildungsbegriff des Wüstenbewohners Salem, der vielleicht nicht einmal lesen und schreiben konnte, nicht so schnell vergessen: „Helala geht zur Schule. Die Mutter trägt sie im Rückentuch und nun sind sie beide unterwegs. Helala lernt die Stimmen der Ziegen und die Farben der Erde, den Geruch des Wassers und die Spuren im Sand. Das muss sie unterscheiden können, sonst kann sie hier nicht leben.“


Fürbitten

Herr, Jesus Christus, du hast ein Kind in die Mitte gestellt. Wir bitten dich:

Wir beten für alle Väter und Mütter, die Kindern das Leben geschenkt haben und sie verantwortungsvoll ins Leben geleiten

Wir beten für alle, die sich um Kinder bemühen und sie in Kindergärte und Schulen mitprägen

Wir beten für alle, die ein Kind adoptieren und es lieben wie ein eigenes

Wir beten für alle Kinder, die es in ihren Familien schwer haben, eine Beziehung zu ihren Eltern aufzubauen

Wir beten für alle Eltern, die einem Kind ins Grab schauen mussten



Meditativer Text nach der Kommunion

Auf der Rückseite unserer letzten Elterinformation steht folgender Text:

Erlebt ein Kind Nachsicht,
lernt es Geduld.
Erlebt ein Kind Ermutigung,
lernt es Zuversicht.
Erlebt ein Kind Lob,
lernt es Empfänglichkeit.
Erlebt ei Kind Bejahung,
lernt es lieben.
Erlebt ein Kind Anerkennung,
lernt es, dass es gut ist,
ein Ziel zu haben.
Erlebt ein Kind Ehrlichkeit,
lernt es, was Wahrheit ist.
Erlebt ei Kind Fairness,
erlernt es Gerechtigkeit.
Erlebt ein Kind Sicherheit,
lernt es Vertrauen in sich selbst
und jene, die mit ihm sind.
Erlebt ein Kind Freundlichkeit,
lernt es die Welt als Platz kennen,
in dem gut wohnen ist.


Pfarrer Stefan Mai

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