Oskar vor dem Kreuz

Predigt zum Fest Kreuzerhöhung

Einleitung

Fast jede Firma gibt heute viel Geld für die Entwicklung eines Firmenlogos aus. Das Logo soll werbeträchtig sein, anziehend wirken und Wesentliches über die Firma aussagen. Wir feiern heute das Fest Kreuzauffindung. Salopp ausgedrückt ist es das Fest der Erstpräsentation des christlichen Logos in der Öffentlichkeit am 14. September des Jahres 335 in der neugeweihten Konstantinischen Basilika über dem Heiligen Grab in Jerusalem. Es gehört somit zu den ältesten Logos dieser Welt.

Predigt

In seinem neuen Buch „Oskar und die Dame in Rosa“ erzählt der französische Schriftsteller Eric Emmanuel Schmitt von einem zehnjährigen Buben namens Oskar. Oskar hat Leukämie und weiß, dass er nur noch kurze Zeit zu leben hat. Aus Feigheit vermeiden seine Eltern dieses Thema. Nur die Putzfrau, Oma Rosa genannt, eine ehemalige Catcherin, hat den Mut, mit Oskar zusammenzusitzen und über seine Fragen nachzudenken. Sie rät ihm, sich jeden verbleibenden Tag wie zehn Jahre vorzustellen, und so durchlebt Oskar auf wundersame Weise ein ganzes Menschenleben wie in einem Zeitraffer: Pubertät, erste Liebe, Eifersucht, Midlife-crisis und das Alter. Und sie legt Oskar ans Herz, sich auf die Suche nach Gott zu machen und ihm jeden Tag einen Brief mit seinen Fragen und über alles, was ihn bewegt, zu schreiben. Oskar lässt sich darauf ein. Eines abends schreibt er an Gott:

Ich habe ein bisschen geschlafen. Oma Rosa und ich aßen dann zu Mittag, und dann ging´s mir besser.
„Verrückt, wie erschöpft ich heute morgen war.“
„Das ist normal, zwischen zwanzig und fünfundzwanzig geht man abends aus, man feiert, man führt ein Lotterleben, man schont sich nicht. Das kostet Kraft. Wollen wir nicht den lieben Gott besuchen?“
„Ach, haben Sie seine Adresse rausgekriegt?“
„Ich glaube, er ist in der Kapelle.“
Oma Rosa zog mich an, als würden wir zum Nordpol aufbrechen, sie nahm mich in die Arme und führte mich zur Kapelle, die sich im Krankenhausgarten befindet, noch hinter den vereisten Grünflächen, na ja, Dir brauche ich nicht zu erklären, wo dein Zuhause ist.
Ich habe natürlich einen Riesenschreck bekommen, als ich Dich dort hängen sah, als ich Dich in diesem Zustand gesehen habe, fast nackt, ganz mager an Deinem Kreuz, überall Wunden, die Stirn voller Blut durch die Dornen, und der Kopf, der Dir nicht mal mehr gerade auf den Schultern saß. Das hat mich an mich selbst erinnert. Ich war empört. Wär ich der liebe Gott, wie Du, ich hätte mir das nicht gefallen lassen.
„Oma Rosa, im Ernst: Sie als Catcherin, Sie als Superchamp, Sie werden doch so einem nicht vertrauen!“
„Warum nicht, Oskar? Würdest du dich eher einem Gott anvertrauen, wenn du einen Bodybuilder vor dir hättest, mit wohlgeformten Fleischpaketen, prallen Muskeln, eingeölter Haut, kahlgeschoren und im vorteilhaften Tanga? Denk nach, Oskar. Wem fühlst du dich näher? Einem Gott, der nichts fühlt, oder einem Gott, der Schmerzen hat?“
„Einem, der Schmerzen hat, natürlich. Aber wenn ich er wäre, wenn ich der liebe Gott wäre, wenn ich so wie er alle Möglichkeiten hätte, würde ich mich um die Schmerzen drücken.“
„Niemand kann sich um Schmerzen drücken. Weder Gott noch du. Weder deine Eltern noch ich.“
„Gut, einverstanden. Aber wozu gibt es überhaupt Schmerzen?“
„Jetzt kommen wir der Sache näher. Es gibt Schmerzen und Schmerzen. Schau dir mal sein Gesicht an. Schau mal ganz genau hin. Sieht er aus, als ob er Schmerzen hätte?“
„Nee. Komisch. Er sieht nicht so aus, als ob ihm was weh täte.“
„Eben. Siehst du, Oskar, man muss zwischen zwei Arten von Schmerz unterscheiden, dem körperlichen Schmerz und dem seelischen Schmerz. Den körperlichen Schmerz hat man zu ertragen. Den seelischen Schmerz hat man sich selbst gewählt.“
„Versteh ich nicht.“
„Wenn man dir Nägel in die Hände haut oder in die Füße, dann kannst du nicht verhindern, dass dir das weh tut. Das musst du aushalten. Dagegen muss dir der Gedanke zu sterben nicht weh tun. Du weißt ja nicht, was das bedeutet. Also hängt es ganz allein von dir ab.“
„Kennen Sie Leute, die sich bei dem Gedanken an den Tod freuen?“
„O ja, solche kenne ich. Meine Mutter zum Beispiel. Auf ihrem Sterbebett hat sie ganz neugierig gelächelt, sie war voller Ungeduld, sie hatte es eilig herauszufinden, was passiere würde … Den meisten Menschen fehlt allerdings diese Neugier. Sie klammern sich an das, was sie haben, wie eine Laus an das Ohr von einem Glatzkopf.“ …
Auch da musste ich ihr zustimmen, weil ich das ganz genauso sah.
„Die Menschen haben Angst vor dem Tod, weil sie Angst vor dem Unbekannten haben. Ich würde dir empfehlen, keine Angst zu haben, Oskar, sondern Vertrauen. Schau dir mal das Gesicht von Gott da am Kreuz an: Den körperliche Schmerz muss er ertragen, aber er empfindet keinen seelischen Schmerz, denn er hat Vertrauen. Deshalb bereiten ihm die Nägel nicht so große Schmerzen. Er sagt sich immer wieder: Ich leide zwar Schmerzen, aber das kann kein Leid sein. Siehst du! Darin liegt der Vorteil, wenn man glaubt. Das wollte ich dir zeigen.“

(aus: Eric Emmanuel Schmitt, Oskar und die Dame in Rosa, Zürich 2003, 63-68)

Was Oma Rosa bei dem Besuch der Krankenhauskapelle dem todkranken Oskar vermitteln wollte, das ist der Inhalt des heutigen Festes Kreuzauffindung. Jahrhunderte haben die jungen Christen gebraucht, um sich zu trauen, das schreckliche Marterwerkzeug als Erkennungs- und Wahrzeichen Jesu stolz in der Öffentlichkeit zu zeigen. Sie haben lange gebraucht zu verstehen: Dieses Bild des Leids stellt mir eine Haltung vor Augen, wie ich Kreuz und Schmerz ertragen kann. Es möchte mich glauben lassen, dass da noch einer da ist, der mit mir leidet, wenn ich in Einsamkeit und Ausweglosigkeit versinke. Es hat lange gebraucht, bis das Schreckgespenst „Kreuz“ als Lebenshilfe verstanden wurde.
„Schau dir mal sein Gesicht an. Schau mal ganz genau hin. Sieht er aus, als ob er Schmerzen hätte?“
Da leidet zwar einer Schmerzen. Aber er zeigt auch wie man sie tragen kann. Viele Kreuze unserer Kirchen und Wohnungen führen uns diese „Weisheit“ des Kreuzes vor Augen. Sie würden nicht mehr hängen, wenn Menschen dies bis heute nicht erfahren würden.

Fürbitten

Herr Jesus Christus, dein Wahrzeichen ist das Kreuz. Ein Zeichen des Anstoßes und zugleich für viele Menschen eine große Lebenshilfe. Wir bitten dich:

Antwortgesang: 182, Strophe 9

Wir beten für alle Menschen, die den Anblick des Kreuzes nicht ertragen können.
Für alle Menschen, die es als billige Vertröstung für die im Leben zu kurz Gekommenen empfinden.
Für alle, denen im Namen des Kreuzes Unrecht zugefügt wurde

Antwortgesang: 182, Strophe 9

Wir beten für alle, für die das Kreuz zu einer banalen Selbstverständlichkeit geworden ist
Für alle, die es als bloßes Schmückstück am Hals tragen oder in die Wohnung hängen
Für alle, die das Brustkreuz als Zeichen der Würde auf dem Bauch tragen

Antwortgesang: 182, Strophe 9

Wir beten für alle Menschen, die in schwerem Leid vor dem Kreuz stehen und fragen: „Wo bleibst du, Gott? Warum mutest du mir das zu?“
Für alle, die auf das Kreuz blicken und dadurch Trost und Hilfe erfahren
Für alle, denen heute bei ihrem Sterben noch einmal das Zeichen des Kreuzes auf die Stirn gezeichnet wird

Antwortgesang: 182, Strophe 9


Pfarrer Stefan Mai

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