Maria mit dem Tintenfass

Predigt zur Maiandacht am 01.05.2003 (Schrifttext: Kol 2,12-14)

Wie oft wird bei Maiandachten der Vers aus einem Gedicht von Novalis zitiert „Ich sehe dich, Maria, in tausend Bildern lieblich ausgedrückt“. Novalis bringt damit die Vielfalt der Madonnendarstellungen, die Künstler im Lauf der Jahrhunderte geschaffen haben, in Worte. Da begegnet uns Maria mit dem Kind auf dem einen Arm. Im anderen hält sie einen Apfel, einen Finken, eine Rose, eine Lilie, einen Rosenkranz ... Auf dem einen Bild lächelt sie, auf einem anderen sind ihre Gesichtszüge traurig, die eine Statue stellt sie nachdenklich dar, die andere völlig verinnerlicht. Vor ein paar Wochen habe ich ein Motiv entdeckt, das ich bisher noch nicht gekannt habe. Sie haben die Darstellung heute vor sich: Maria mit dem Tintenfass. Da hält Maria in der rechten Hand ein Tintenfass und der kleine, pfiffige Knirps taucht darin seinen Federkiel ein, hält gekonnt – wie ein alter römischer Schreiber – ein Blatt auf den Knien und beginnt darauf zu schreiben.
Ich denke, uns allen ist klar: Diese Madonna wurde nicht von einem Künstler im Rahmen des PISA-Fiebers in Deutschland gefertigt, um jetzt noch mehr Mütter zu animieren, ihren Babys schon das Schreiben beizubringen und ja keine Chance zur Bildung auszulassen, so unter dem Motto „es kann nie früh genug sein“. Die Madonna ist älter als die Studie, die dem sogenannten „Volk der Denker und Dichter“ so schwer zu schaffen macht. Was aber drückt sie aus?
Die Darstellung dieser fast schwarzen Madonna beginnt aber von selbst zu sprechen, wenn man weiß, wo sie ihren Platz hat: Sie hängt nämlich in der Gefängniskapelle der Würzburger Justizvollzugsanstalt. Für sie gibt es keinen besseren Platz.
Wie eine Schreibgehilfin hält Maria Jesus das Tintenfass hin und dieser schreibt geheimnisvoll auf das Blatt. Er setzt an, dieses Dokument durchzustreichen. Dieses Dokument ist ein Schuldspruch oder Schuldschein. Mit einem Federstrich erklärt diesen Jesus für nichtig. Diese Madonnendarstellung möchte Gefangenen glauben lassen, was der Kolosserbrief in die Worte brachte: „Er hat den Schuldschein, der gegen uns sprach, durchgestrichen und seine Forderungen, die uns anklagten, aufgehoben“ (Kol 2,14), oder wie es in einem modernen Lied gerne gesungen wird: „Bedenke, in Jesus vergibt er dir gern ... Barmherzig, geduldig und gnädig ist er ... Er warf unsere Sünden ins äußerste Meer.“


Mit dieser Madonnendarstellung versuchte ein Künstler, eine Grundhaltung dieses Jesus, die ihn als erwachsenen Mann einmal auszeichnen wird, bildlich darzustellen. Der wird in seinem Gleichnis einen Schuldigen fragen lassen: „Wie viel bist du schuldig?“ „Hundert Sack Weizen“, stottert dieser, und bekommt zu hören: „Geh hin, nimm deinen Schuldschein und schreibe achtzig!“ Dieser wird sich einmal schützend vor eine Frau stellen, über die die Frommen herfallen und sie mit seinem Satz schachmatt setzen: „Wer von euch ohne Schuld ist, werfe den ersten Stein auf sie!“ Dieser wird oft zu Menschen sagen. „Deine Sünden sind dir vergeben“ und dadurch Menschen einen neuen Anfang ermöglichen. Dieser wird den kühnen Satz über den verhassten Zöllner sprechen: „Dieser kehrt als Gerechter nach Hause zurück“ und wird dem Verbrecher am Kreuz das Paradies verheißen. Fast unbekümmert und kühn, voller Entschlusskraft agiert dieser Jesus mit seinem Federkiel auf dem Arm Mariens.
Maria steht dem Knaben dabei zur Hilfe, hält bereitwillig das Tintenfass, aber ihr nachdenklicher Blick verrät eine gewisse Skepsis: Werden Menschen dies je begreifen können, was es heißt: Der Schuldschein ist durchgestrichen, für nichtig erklärt?
Werden es die begreifen, denen zugesichert wird: „Auch wenn die Gesellschaft dich verurteilt hat, ich vergebe dir. Wage einen Neuanfang!“ Jeder von uns weiß doch, wie schwer es ist, dies glauben zu können, mir ist vergeben. Jeder weiß doch, wie groß die Versuchung ist, immer wieder nach der vergangenen Schuld zu fischen. Obwohl wir singen: „Er warf unsere Schuld ins äußerste Meer“ und am Ufer eine große Tafel angebracht ist mit der Inschrift „Angeln verboten“, ist es nicht leicht, sie dort liegen zu lassen und unbelastet seiner Wege zu gehen.
Und wird auch das Umfeld von schuldig gewordenen Menschen dieses Schuld-Durchstreichen begreifen? Gott streicht diese Schuld eines Menschen durch, auch wenn andere darunter gelitten haben und ermöglicht diesem Menschen einen Neuanfang und möchte nicht, dass ich da im Weg stehe, sondern gerade hierfür Wege bahne?
Eigene und fremde Schuldscheine durchstreichen lassen, das ist keine leichte Sache. Dies zu akzeptieren ist eine lange Lerngeschichte. Diese Lebensweisheit wird für mich in dieser Madonna dargestellt. Gott sei Dank passiert hin und da genau das, worauf dieses Marienbildnis hofft. John Kord Lagemann erzählt:

Einmal saß ich bei einer Bahnfahrt neben einem jungen Mann, dem sichtlich etwas Schweres auf dem Herzen lastete. Schließlich rückte er dann damit heraus, dass er ein entlassener Sträfling und jetzt auf der Fahrt nach Hause sei. Seine Verurteilung hatte Schande über seine Angehörigen gebracht. Sie hatten ihn nie im Gefängnis besucht und auch nur selten geschrieben. Er hoffte aber trotzdem, dass sie ihm verziehen hatten. Um es ihnen aber leichter zu machen, hatte er ihnen in einem Brief vorgeschlagen, sie sollten ihm ein Zeichen geben, an dem er, wenn der Zug an der kleinen Farm vor der Stadt vorbeifuhr, sofort erkennen könne, wie sie zu ihm stünden. Hatten die Seinen ihm verziehen, so sollten sie in dem Apfelbaum an der Strecke ein weißes Band anbringen. Wenn sie ihn aber nicht daheim haben wollten, sollten sie gar nichts tun, dann werde er im Zug bleiben und weiterfahren, weit weg. Gott weiß, wohin.
Als der Zug sich seiner Vaterstadt näherte, wurde seine Spannung so groß, dass er es nicht über sich brachte, aus dem Fenster zu schauen. Ein anderer Fahrgast tauschte den Platz mit ihm und versprach ihm, auf den Apfelbaum zu achten. Gleich darauf legte der dem jungen Sträfling die Hand auf den Arm. „Da ist er“, flüsterte er, und Tränen standen ihm plötzlich in den Augen, „alles in Ordnung. Der ganze Baum ist voller weißer Bänder.“ In diesem Augenblick schwand alle Bitternis, die ein Leben vergiftet hatte. „Mir war“ sagte der Mann später, „als hätte ich ein Wunder miterlebt. Und vielleicht war´s auch eines.“


Pfarrer Stefan Mai

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