Brot, von dem wir leben

Predigt zur feierlichen Kinderkommunion 2003 (1Kön 17,8-15; Mt 7,7-11)

Von der Küche aus sieht die Mutter: Draußen schnüffeln die Soldaten herum. Sie wusste genau, worauf sie es anlegen. Sie wollen etwas finden, um ihrer Familie einen Strick zu drehen. Sie wusste, dass das atheistische Regime in Russland es verboten hatte, Christ zu sein, seinen Glauben zu praktizieren und ihn an die Kinder und die nächste Generation weiterzugeben. Trotzdem tat sie es. Trotzdem betete sie. Trotzdem las sie täglich in einem alten Buch, das schon lange Besitz der Familie war: in der Bibel. Sie wusste, wenn die Soldaten dieses Buch im Haus finden, dann ist es aus. Sie war gerade beim Brotbacken für ihre Familie und knetete den Teig. Geistesgegenwärtig lief sie zum Schrank, holte aus der Schublade die Bibel, schlug sie in den Brotteig ein und schob den Brotlaib schnell in den Ofen. Und schon polterten die Spitzel ins Haus, durchstöberten alle Zimmer, Ecken und Winkel des Hauses und durchsuchten alle Schränke. Doch zu ihrer Enttäuschung fanden sie nichts. Mit innerem Groll verließen sie das Haus. Und drinnen im Backofen wurde das Brot fertig.
Am nächsten Tag legte die Mutter es wie einen kostbaren Schatz auf den Tisch. Der Vater und die Kinder saßen um das Brot herum, wie sie es anschnitt. Vorsichtig holte sie aus dem Brot die Bibel heraus. Sie brauchte kein Wort zu sagen. Alle verstanden: Wir leben nicht nur vom Brot, das wir essen. Wir leben auch von den Worten in diesem Buch. Die Hoffnungsgeschichten, die in ihm aufbewahrt werden, geben uns Kraft. Diese Worte sind für uns unersetzlich.

Melodie: Brot, das die Hoffnung nährt

Ich werde das Bild aus meiner Kindheit immer im Herzen tragen, das wir als Kinder daheim täglich erlebt haben. Wenn wir uns zur Brotzeit an den Küchentisch setzten, dann nahm die Mutter oder der Vater den Brotlaib, drückten ihn an die linke Seite, wo das Herz liegt, machten mit dem Messer drei Kreuze auf die Rückseite, schnitten mit der rechten Hand eine Scheibe vom Brot ab und gaben sie uns. Erst als Erwachsenem ging mir auf, was dieses stille Zeichen im Tiefsten zum Ausdruck brachte. Das Brot, das sie uns gaben, war nicht nur ein Zeichen dafür, dass sie uns das Brot reichten und für uns sorgten, sondern ein Zeichen für viel mehr. Das Brot, von dem wir als Kinder lebten und das für mich bis in die heutige Zeit weiterduftet, war die Güte und absolute Verlässlichkeit, die wir spüren durften. Mit dem Brot, das sie uns gaben, ließen sie uns spüren: Ihr seid das wertvollste, was wir haben. Ihr Brot, das sie weiterschenkten, war ihre Freude an der bäuerlichen Arbeit, es waren die Lieder, die sie uns bei den seltenen Ausflügen vorsangen, es waren ihre gefalteten Hände, die wir täglich sahen. Es waren nicht große Worte, sondern die vorgelebte Haltung, dass man das Leben, das Glück, den Erfolg nicht der eigenen Tüchtigkeit, sondern einem Größeren verdankt und dass man im Leid und Schicksalsschlägen noch darauf vertrauen kann, dass woanders die Kraft herkommt.
Ein besonders Brot liegt heute vor unserem Altar. Darin ist heute etwas versteckt. Seid ihr gespannt?

– Melodie: Brot, das die Hoffnung nährt -

Das Brot wird auf den Altar gelegt und auseinandergeschnitten. Es kommt eine Hülse zum Vorschein, in der auf einer Schriftrolle die Bibelworte gesammelt sind, die sich die Kommunionkinder als ihr „Lieblingswort“ in der Vorbereitung auf die Kommunion ausgesucht haben. Die Schriftrolle wird entfaltet. Fünf Ministranten halten das Schriftband.


Diese Worte habt ihr euch ausgesucht. Sie stehen in der Bibel und haben euch gut gefallen. Ein Bäcker hat sie für uns – wie damals die gläubige Mutter – in den Brotlaib hineingebacken. Dieses besondere Brot mit den Bibelworten will uns deutlich vor Augen stellen: Diese Worte aus der Bibel, die wir immer in unseren Gottesdiensten hören, die wollen mir Kraft geben, Mut machen, mich trösten, wollen mir helfen, dass ich nicht so schnell aufgebe im Leben, wollen mich auch glauben lassen, dass es einen gibt, der für mich sorgt. Dieses Brot mit den Worten sagt uns , was wir vom Leben her wissen: Für uns Menschen sind gute Worte Lebensnahrung. Und ganz tief da drinnen spüren wir: Der Mensch lebt nicht nur vom Brot allein. Oder wie es ein bekannter Dichter einmal ausgedrückt hat: „Man kann doch auf Dauer nicht leben von Kühlschränken, Politik, Finanzen und Kreuzworträtseln. Man kann es einfach nicht. Man kann nicht leben ohne Dichtung, ohne Farben, ohne Liebe.“. Ich möchte hinzufügen: Man kann nicht leben von bloßem Konsumieren und Produzieren, von Computerspielen und Fernsehgucken, von Karriere und Genießen des Wohlstands.
Liebe Kinder, das kleine Scheibchen Brot, das ihr heute zum ersten Mal empfangt, will euch spüren lassen, was ich euch mit dem großen Brot sagen wollte: Dieser Jesus, was er gesagt hat, wie er mit Menschen umgegangen ist, dieser Mann ist gut wie Brot. Von ihm kann ich mir immer eine Scheibe abschneiden.
Liebe Eltern, ich denke, auch sie haben dabei gespürt: Mein Kind erhofft auch von mir solche Worte, die es nähren und aufbauen. Und ist es nicht großartig? Dieser Jesus traut Ihnen zu, dass Sie dieses Brot Ihren Kindern geben. „Oder ist einer unter euch, der seinen Sohn einen Stein gibt, wenn er um Brot bittet?“ (Mt 7,9)

Lied: Brot, das die Hoffnung nährt...


Pfarrer Stefan Mai

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