Keine leichte Zeit

Predigt zur Maiandacht der Oberschlesier am 10.05.03 (Lk 2,41-52)

Für Eltern ist es keine leichte Zeit, wenn die heranwachsenden Kinder langsam flügge werden. Wenn sie anfangen, sich zu weigern, mit den Eltern spazieren zugehen, wenn sie sich komisch vorkommen, mit den Eltern am Abend daheim vor dem Fernseher zu sitzen, wenn sie auf einmal ankündigen, beim nächsten Urlaub nicht mehr mitfahren zu wollen. Eltern fühlen sich oft zurückgestoßen, wenn ihre Kinder lieber mit den Freunden in der Stadt bummeln gehen, anstatt mit ihnen einzukaufen. Es ist keine leichte Zeit, wenn Eltern merken: Unsere Kinder hören mehr auf Meinungsmacher, die im Trend der Zeit und Gesellschaft liegen, als auf unsere Ratschläge. Und der eigene Einfluss wird immer geringer. So manche Mutter kennt den Schmerz, wenn sie zu hören bekommt: Ach Mutter, da kommst du einfach nicht mehr mit.
Das Durchtrennen der Nabelschnur passiert eigentlich erst in diesem Lebensabschnitt. Wie oft kommt dann Eltern der Seufzer über die Lippen: „Kleine Kinder, kleine Sorgen. Große Kinder, große Sorgen.“ - „Ach, wir hätten uns das Familienleben so anders vorgestellt.“

Dieser Familienprozess ist auch den Eltern Josef und Maria mit ihrem Jesus nicht erspart geblieben. Nach der Darstellung im Tempel heißt es noch: „Das Kind wuchs heran und wurde kräftig; Gott erfüllte es mit Weisheit, und seine Gnade ruhte auf ihm“ (Lk 2,40). Das klingt nach: ein gescheites Kind, ein liebes Kind mit angenehmen Wesen, ein Kind, wie man es sich nur wünschen kann.
Doch wenige Zeilen später das böse Erwachen: „Der junge Jesus aber blieb in Jerusalem, ohne dass seine Eltern es merkten.“ (Lk 2,43) Jesus macht plötzlich das Familienprogramm nicht mehr mit. Auch Maria merkt es wie so manche heutige Mutter gar nicht, wie schnell ihr Kind groß geworden ist und nicht in allem so denkt wie die Eltern. Und wie schnell bringt auch sie dieses „anders denken“ auf die Schiene des Vorwurfs: „Wie konntest du uns das antun?“( Lk 2,48)
Auch in dieser heiligen Familie gibt es wie in jeder Familie die Spannung von Gemeinschaft und Entfremdung, von Verstehen und Nichtverstehen, von Zusammenhalt und Abgrenzung. Und doch endet das Evangelium mit den Worten: „Jesus aber wuchs heran, und seine Weisheit nahm zu und er fand Gefallen bei Gott und den Menschen“ (Lk 2,52). Das Evangelium macht damit deutlich: Die Augen Gottes sehen manchmal die Entwicklung eines Menschen anders als unsere menschlichen Augen.

In diesen wenigen Zeilen der Bibel ist für mich eine tiefe Lebensweisheit eingeschrieben, die aber schwer zu lernen ist, vor allem für Eltern. Die Weisheit: Keiner kann den anderen so formen, wie er ihn haben will. Keiner kann sagen und erwarten: Du denkst wie ich, du fühlst wie ich. Keiner ist des anderen Wunscherfüller oder gar dessen Besitz. Keiner kann sagen: Du gehörst mir.
Der Dichter Werner Bergengruen hat dies einmal meisterhaft zur Sprache gebracht. In einem seiner Gedichte heißt es:

Ich bin nicht dein, du bist nicht mein,
keiner kann des andern sein.


Pfarrer Stefan Mai

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