Irgendwo dazwischen

Karfreitag 2003

Der Tod hat viele Gesichter. Jedes Sterben ist anders. Schon die alten jüdischen Weisen wussten, dass ein Sterben so mühsam sein kann „wie das Ziehen eines Taus durch den Ring eines Mastbaumes“, aber auch so leicht, „wie wenn man ein Haar aus der Milch zieht“. Diese Art von Sterben nannten sie den „Tod im Kuss“.

Wer schon Menschen beim Sterben erlebt hat, der weiß, dass es beides gibt: dieses mühsame und qualvolle Sterben genauso wie das leichte. Ich habe Menschen erlebt, die unruhig, voller Angst auf den Tod zugingen, die trotz totaler Entkräftung und Erschöp-fung sich aufbäumten und dem Bett, in dem der Tod schon war-tete, am liebsten davonlaufen wollten. Ich habe Menschen erlebt, die sich bei jedem Atemzug plagen mussten und laut röchelten, dass es einem in der Seele weh tat, oder die vor Schmerzen wimmerten oder gar schrieen. Genauso sind mir Menschen in Er-innerung, die ruhig und gelassen, mit einem Gebet auf den Lippen oder gar einem Lächeln auf dem Gesicht in den Tod gingen. Und dabei spielte es keine Rolle, ob die Sterbenden gläubig oder un-gläubig waren.

Wir haben in dieser Karwoche zwei Passionsgeschichten gehört. Am Palmsonntag das Sterben Jesu nach Markus, und heute das Sterben Jesu, wie es uns der Evangelist Johannes erzählt. Die beiden Passionen zeigen uns den Tod mit einem je eigenen Ge-sicht. Der Evangelist Markus stellt uns einen sterbenden Jesus vor Augen, der mit Angst, ja Verzweiflung, von Freunden und von Gott verlassen, in den Tod geht. Der Evangelist Johannes dage-gen zeigt uns ein Sterben in Erhabenheit und Würde, seine Ver-trautesten in nächster Nähe.

Diese Unterschiede durchziehen die beiden Passionserzählungen: Im Ölgarten begegnet uns im Markusevangelium ein Jesus, der Angst hat vor dem, was auf ihn zukommt, der zittert und zagt – und wehrlos in die Hände der Häscher fällt. Ganz anders im Jo-hannesevangelium: Als Jesus die Kohorte sich nähern hört, tritt er aus dem Garten heraus, fragt majestätisch: „Wen sucht ihr?“ – und lässt mit seinem herrscherlichen „Ich bin es“ alle rücklings zu Boden fallen.
Bei Markus begegnet uns Jesus als ein ohnmächtiger Mensch: Man lädt ihm das Kreuz auf, wegen seiner Schwäche braucht er einen Bauern zum Kreuztragen, und schon vorher hat man ihn zum Spielball der Launen und des Spotts gemacht. Bei Johannes bleibt Jesus bis zum Schluss nicht nur Herr seiner selbst, sondern auch Herr des Geschehens. Beim Kreuztragen ist Jesus auf keine fremde Hilfe angewiesen. Wie einen Thron besteigt er das Kreuz und gibt von dort aus wie ein erhabener Herrscher letzte Anwei-sungen, bis er das majestätische Schlusswort spricht: „Es ist voll-bracht“ – und selber seinen Geist Gott in die Hände übergibt.

Im Markusevangelium muss Jesus dagegen den Kreuzestod bitter erleiden. Das letzte Wort, das wir von ihm hören, ist ein Klageruf: „Mein Gott, mein Gott, warum hat du mich verlassen?“ Und sein letztes Lebenszeichen ein lauter Schrei.
Liebe Leser, keiner von uns weiß, welches Sterben auf ihn zu-kommt. Keiner kann heute sagen, wie er einmal sein Sterben er-leben und hinnehmen wird. Es gibt kein Rezept zu einem leichten Sterben. Das Sterben kann man nicht im voraus üben. Es gibt nur den Ernstfall. Die Erfahrung des Todes macht jeder nur einmal. Der Tod ist keine Stangenware, sondern ein ganz persönliches Geschehen. Den letzten Abschied kann uns niemand abnehmen, jeder nimmt ihn für sich. Das ist das Geheimnis des Todes und seine Würde.

Wir machen heute unsere Kniebeuge vor einem leidenden Gekreuzigten, wie ihn der Evangelist Markus schildert. Hätten wir die Darstellung eines romanischen Kreuzes, das Jesus im Sinn des Johannesevangeliums wie einen König mit herrscherlichem Ge-wand und Kaiserkrone präsentiert, ich würde heute einmal beide Kreuze nebeneinander stellen. Denn sie zeigen uns die beiden extremen Gesichter von Sterben. Mein eigenes Sterben wird ir-gendwo dazwischen liegen. Niemand von uns weiß, welches Ge-sicht sein eigener Tod haben wird. Ich kann heute bei meiner Kniebeuge vor dem Kreuz nur darum beten: Gott, bitte gib mir die Kraft, mein Sterben – wie immer es sein wird – zu bestehen.

Wir werden gleich ein Kreuz enthüllen, das Jesus als Leidenden zeigt, wie ihn der Evangelist Markus schildert. Aber ganz bewusst werden wir heute ein zweites Kreuz enthüllen, das immer in unserer Kirche sichtbar ist: das romanische Kreuz an der Stirnwand, das Jesus im Sinn des Johannesevangeliums wie einen König mit Kaiserkrone präsentiert. Bei der Kreuzverehrung sehen wir zwei Kreuze vor uns: an den Altarstufen den Schmerzensmann, da-hinter den erhabenen König. Wir schauen in zwei extreme Gesichter von Sterben. Mein eigenes Sterben wird irgendwo dazwi-schen liegen. Niemand von uns weiß, welches Gesicht sein eige-ner Tod haben wird. Ich kann nur heute bei meiner Kniebeuge vor dem Kreuz darum beten: Gott, bitte gib mir die Kraft, mein Ster-ben – wie immer es sein wird – zu bestehen.


Pfarrer Stefan Mai

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