Adam, wo bist du?
Predigtreihe in der Fastenzeit "Suchen. Und Finden"
In einem Gedichtband aus dem Jahr 1963 hat Christa Reinig ein Gedicht mit dem Titel "Gott schuf die sonne" veröffentlicht. Es lautet:
Ich rufe den wind wind antworte mir Ich bin sagt der wind bin bei dir
Ich rufe die sonne sonne antworte mir Ich bin sagt die sonne bin bei dir
Ich rufe die sterne antwortet mir wir sind sagen die sterne alle bei dir
Ich rufe den menschen antworte mir ich rufe - es schweigt nichts antwortet mir
Das Gedicht kann man sich fast auf Anhieb merken. Es hat vier Strophen und ist immer nach dem gleichen Schema aufgebaut. Jede Strophe beginnt mit einem "Ich", das nicht näher gekennzeichnet ist. Wer ist dieses "Ich"? Ist es der Mensch oder Gott? Hören wir unter dieser Fragestellung noch einmal genau hin.
- (Ein Lektor liest jetzt die ersten zwei Zeilen jeder Strophe - für die Gottesdienstbesucher unsichtbar - als Stimme aus dem Hintergrund) -
Ich rufe den wind wind antworte mir ich bin sagt der wind bin bei dir
Ich rufe die sonne sonne antworte mir ich bin sagt die sonne bin bei dir
Ich rufe die sterne antwortet mir wir sind sagen die sterne alle bei dir
Ich rufe den menschen antworte mir ich rufe - es schweigt nichts antwortet mir
Sie haben gespürt. Da ruft Gott seine Geschöpfe. Genannt werden Wind, Sonne, Sterne und Mensch. Er ruft sie wie ein Hirt, der seine Schafe ruft, um sich zu vergewissern, dass sie bei ihm sind. Eine tiefe Sorge, dass eines seiner Geschöpfe ihm verloren gehen könnte, spricht aus diesen Zeilen. Wind, Sonne und Sterne geben sofort Antwort: "Wir sind bei dir." Harmonie, Geborgenheit, das Gefühl von Zusammengehörigkeit spricht aus dieser Antwort. Selbst der schweifende Wind, der eigentlich nicht zu fassen ist, das unendliche Universum mit den Sternen- und Sonnensystemen sind bei Gott, sind ihm nahe. Um so erschreckender hebt sich die vierte Strophe ab:
Ich rufe den menschen antworte mir ich rufe - es schweigt nichts antwortet mir
Gott sucht und ruft den Menschen. Aber er bekommt keine Antwort. Es steht nicht einmal da: der Mensch schweigt, sondern: es schweigt. Welche Leere, welch grausame Anonymität steht da am Ende des Gedichtes.
Die Dichterin lebte bis 1964 in der DDR. Ich weiß nicht, ob Christa Reinig bei diesen Zeilen noch die atheistische Luft des DDR-Regimes im Kopf hat oder schon auf die Situation des Menschen in Westdeutschland anspielt. Auf jeden Fall hat sie die Geschichte aus dem Buch Genesis im Hinterkopf. Es ist die erste Frage, die Gott in der Bibel überhaupt stellt: "Adam, Mensch, wo bist du?" Sie ist überzeugt, diese erste Frage Gottes steht seit der Erschaffung des Menschen im Raum, diese erste Frage Gottes ist ein Testament für die Fürsorge Gottes und sein Interesse am Menschen, für sein Suchen und seine Sehnsucht nach dem Menschen. Diese erste Frage Gottes gilt auch mir:
- Stimme aus dem Hintergrund -
Ich rufe den Menschen antworte mir
Adam, Günther, Norbert, Alfred, Martin, Stefan, Kevin, Christopher, Matthias, David, Johanna, Maria, Christina, Katharina, Sophia, Julia, Elisabeth, Lena, Anna, Wo bist du? Wo stehst du?
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