Zu viel sündenempfindlich-zu wenig leidempfindlich

Predigt zum 6. Sonntag im Jahreskreis B (Mk 1,40-45)

Einleitung

Trotz moderner Medizin haben auch heute noch Menschen Angst vor Ansteckungsgefahr. Oft vor jedem kleinen Schnupfen. Da wundert es nicht, wenn die alten Völkern vor Menschen mit bestimmten Krankheiten Angst hatten, den Umgang mit ihnen mieden oder für deren Isolierung sorgten. Das bekannteste Krankheitsbild hierfür ist in der Bibel der Aussatz. Aussätzige wurden buchstäblich ausgesetzt, um sich selbst zu schützen.

Der Aussatz hat viele Namen, die Menschen bewegen, Kontakt mit anderen zu meiden, Angst zu bekommen, durch andere in etwas hineingezogen zu werden, in Traurigkeit, in verrufene Milieus, in schwierige Situationen. Jede Zeit hat ihre Aussätzigen.

Predigt

Im September letzten Jahres wurde auf dem Filmfestival in Venedig Peter Mullans Film "Die unbarmherzigen Schwestern" mit dem Goldenen Löwen ausgezeichnet. Zur Zeit läuft er in den deutschen Kinos und sorgt für Aufsehenerregen. Er stellt das Leben in den sogenannten Magdalenenheimen der sechziger Jahre dar, in denen in Irland gefallene Mädchen aufgenommen wurden. Was in der irischen Kirche nach außen als Akt christlicher Nächstenliebe dargestellt wurde, wird in diesem Film durch das Nachzeichnen von drei exemplarischen Lebensbiografien als fragwürdige Institution entlarvt. Was man sich als eine Einrichtung christlicher Nächstenliebe ausmalen könnte, in der verletzten, jungen Frauen wieder das Gefühl für die eigene Würde und neues Selbstvertrauen vermittelt wird, entpuppt sich als Ort der fortlaufenden Entwürdigung.

Die Frauen werden von den "Sisters of Mercy", den Schwestern der Barmherzigkeit, gedrillt und zur Arbeit in der Wäscherei gezwungen: Die Spiritualität des Ordens besteht in der Vorstellung, dass die harte Arbeit der Reinigung von Wäsche geeignet ist, sich den Schmutz von der Seele zu waschen und jede Befleckung der Seele zu lösen. Schonungslos kritisiert dieser Film ein Kapitel der jungen Kirchengeschichte, denn das letzte Magdalenenheim wurde erst 1996 geschlossen. Die Kritik heißt: Aus einem sonderbaren Reinheitsdenken heraus hat die Kirche Menschen zu Aussätzigen gebrandmarkt, sie in Gettos gesteckt und dies mit der Absicht: Man will die Allgemeinheit schützen, die sogenannten "Reinen".

In den Magdalenenheimen wurden junge Frauen, die sich als ledige Mütter, als sogenannte Verführerinnen in einer Gesellschaft mit einer rigiden Sexualmoral oft nicht gegen die Rolle eines Sündenbocks wehren konnten, in Erziehungsheime weggesperrt, damit die gefährdete Ordnung wiederhergestellt wurde. Der Film führt radikal vor Augen, wie unbarmherzig sogenannt unreine Menschen behandelt wurden und dabei seelisch verkrüppelten. Und es klingt fast wie eine Ironie: Die Magdalenenheime führten in ihrer Bezeichnung den Namen einer Frau, die nach kirchlicher Tradition mit der Sünderin im Lukasevangelium identifiziert wird. Doch dieser Frau gegenüber hat sich Jesus nicht abgegrenzt, sondern sie hautnah an sich herangelassen.

Der große Theologe Johann Baptist Metz hat einmal die These aufgestellt: Wir Christen sind zuviel "sündenempfindlich" und zu wenig "leidempfindlich" erzogen worden. Deshalb sind viele Christen vor allem darum bemüht, Sünden zu meiden, anstatt Leid wahrzunehmen. Deshalb grenzen sie sich zu schnell von Menschen ab, die nicht in ihre Denkkategorie und Wertekategorie passen, ordnen sie der Welt der Unreinheit zu und haben oft Angst, mit ihnen überhaupt in Berührung zu kommen.

Das Verhalten Jesu im heutigen Evangelium zeigt eine andere Priorität. Er grenzt sich aus Reinheitsdenken wenig gegenüber Aussätzigen und Sündern ab. Er lässt sich vielmehr vom Leid der Ausgesetzten und Ausgegrenzten anrühren. Von Jesus heißt es lapidar: Er hatte Mitleid, streckte die Hand aus, berührte ihn und sagte: Ich will, sei rein! Er pflegt nicht Mitleid vom Lehnstuhl aus, hat keine Berührungsangst, sondern macht sich im Kontakt mit Unreinen die Finger schmutzig und begibt sich selbst in Gefahr. Seine Umwelt zahlt ihm die Durchbrechung der Reinheitsschranken heim. Es heißt am Ende: Jesus konnte sich in keiner Stadt mehr zeigen. Der, der Aussätzige provozierend in die menschliche Gemeinschaft aufnahm, wurde selbst aus der Gemeinschaft ausgeschlossen.

Liebe Leser! Als Kirche sind wir von einem solchen Jesus noch weit entfernt. Aber ein Evangelium wie das heutige möchte etwas ähnliches tun, wie der Aidsseelsorger Petrus Ceelen in einer Predigt einmal formulierte: "Meine Damen und Herren, ich möchte Sie gewissermaßen an die Hand nehmen und Sie bitten, mit mir zu kommen. Ich führe Sie hin zu Menschen, die keine Damen und Herren sind. Zwischen ihnen und uns liegen Welten - und trotzdem sind sie uns ganz nahe."

Fürbitten

Zu Jesus Christus, unserem Herrn, rufen wir voll Vertrauen:

– Für alle, denen Hilfe verweigert wird, und für alle, deren Nöte ernst genommen werden

– Für alle, die alles kalt lässt, und für alle, die im menschlichen Sinne Mitleid empfinden

– Für alle, die Berührungsängste haben, und für alle, die gern auf Menschen zugehen

– Für alle, die an Krankheiten leiden, über die man nicht gerne spricht, und für alle, die diese Menschen pflegen und zu ihnen halten

– Für alle, die in der dritten Welt an Seuchen sterben, und für alle, die nach Mitteln suchen, Seuchen zu bekämpfen


Pfarrer Stefan Mai

© Stefan Mai 2001 - 2024
Alle Rechte vorbehalten.
Vervielfältigung nur mit Genehmigung von Pfarrer Stefan Mai.

www.stefanmai.de