Was vorüber ist, ist nicht vorüber

Predigt zu Silvester 2002

31. Dezember 2002. Dieses Datum ist heute als letztes Blatt des Abreißkalenders in vielen Küchen zu sehen. Der neue Kalender liegt schon bereit und wartet darauf, dass der alte vom Haken genommen wird. Spätestens morgen früh ist es so weit. Der alte hat ausgedient und wandert in den Papierkorb.

Wer mit Terminkalendern in seinem Beruf leben muss, kennt vielleicht den Ritus: Zwischen den Jahren holt man sich den Terminkalender des alten Jahres her, blättert ihn vielleicht noch einmal schnell durch, legt dann den neuen daneben und überträgt die schon für das neue Jahr vorgemerkten Termine in das noch unschuldige Büchlein. Der alte Kalender ist passé. Er wandert zum Stapel seiner Kollegen aus den Vorjahren.

Der Wechsel der Kalender wirft die Frage auf: Wie gehe ich mit Vergangenheit um? Heißt mein Motto: Durchstreichen, abhaken und weitermachen? Was vorbei ist, ist vorbei. Was soll’s, sich über das "Gestern" den Kopf zu zerbrechen. An der Vergangenheit lässt sich eh nichts mehr ändern.

So hätten wir’s gerne fürs neue Jahr. So weitermachen, als wäre nichts gewesen. Ganz neu anfangen. Ganz unvoreingenommen wieder an eine Sache herangehen können. Unbelastet mit den gleichen Menschen eine neue Geschichte beginnen.

So hätten wir’s gerne. Aber die Vergangenheit lässt sich nicht so einfach in den Papierkorb werfen wie der Abreißkalender. Und was vor uns liegt, ist nicht ganz so blütenweiß und unschuldig wie der neue Terminkalender.

Die Erfahrungen des alten Jahres werden mich ins neue Jahr begleiten, die guten wie die schlechten. Die guten Erfahrungen werden mich beflügeln. Was mir im alten Jahr gut gelungen ist, das werde ich auch im neuen Jahr mit Elan und Vorfreude wieder anpacken. Was mich verletzt hat, das wird auch im neuen Jahr schmerzen.

Auch wenn ich mich noch so anstrenge: Einem Menschen, mit dem es Spannungen gegeben hat, werde ich auch im neuen Jahr nicht unvereingenommen begegnen können. Dagegen hat einer sofort mein Vorschussvertrauen, wenn ich bisher mit ihm klargekommen bin.

Der Jahreswechsel macht keinen Schnitt. Es handelt sich um einen Prozess. Was war, ist zwar vorbei, aber es geht trotzdem weiter. Wer am letzten Abend des alten Jahres meint: Durchstreichen, abhaken und weitermachen, der macht sich etwas vor. Ich glaube, die Dichterin Rose Ausländer liegt näher am Leben, wenn sie schreibt:

Was vorüber ist

Ist nicht vorüber

Es wächst weiter in Deinen Zellen

Ein Baum aus Tränen

Oder

Vergangenem Glück.

Das ist hart: Der Baum aus Tränen wächst weiter. Das ist aber auch trostvoll: ebenso der Baum aus vergangenem Glück.


Pfarrer Stefan Mai

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