Familie zwischen Ideal und Realität
Predigt zum Familiensonntag 2002
An Weihnachten kommen sie wieder alle heim. In die Familie. Egal, ob verheiratet oder unverheiratet. Egal, ob sie selbst Familie haben oder nicht.
Nie im Jahr wird mehr "auf Familie gemacht" als an Weihnachten. Nirgends im Jahr ist die Sehnsucht größer, spüren zu dürfen: Ich gehöre zu einer Familie. Die Besuche zeugen davon. Und in wie vielen Kontaktanzeigen träumen Menschen davon, nicht allein vor dem Weihnachtsbaum stehen zu müssen und wenigstens einen Schatten von Familie erleben zu dürfen.
Bei aller Diskussion um die gesellschaftliche Stellung der Familie bleibt die Familie für die meisten Menschen der größte Wert. Die Familie ist für viele ein Hort der Geborgenheit im rauen Wind der Gesellschaft; der Ort, wo ich mich gehen lassen kann und keine Angst vor Konkurrenz zu haben brauche. Viele preisen die Familie als Kraftquelle oder gar Sinn ihres Lebens.
Ganz in diese Kerbe schlägt auch der Kolosserbrief. Auch er lässt sich zu einem großen Traum hinreißen, wenn er empfiehlt: "Vor allem aber liebt einander, denn die Liebe ist das Band, das alles zusammenhält und vollkommen macht!" (Kol 3,14).
Aber neben diesem Traum gibt es auch den Blick auf die nüchterne Realität: "Ihr Frauen, ordnet euch den Männern unter! Ihr Kinder, gehorcht euren Eltern in allem!" Das ist antike Gesellschaftsordnung. Der Vater ist der Chef im Haus, die Frau hat zu gehorchen, die Kinder rangieren unter den Arbeitskräften.
Aus der Traum vom großen Band der Liebe, das alles zusammenhält? Nein. Trotz dieser stinknormalen Realität träumt der Kolosserbrief von Veränderungen: Er traut sich, und das ist nicht üblich in der Antike, sogar dem Chef im Haus eine Predigt zu halten: "Ihr Männer, liebt eure Frauen und seid nicht aufgebracht gegen sie! Ihr Väter, schüchtert eure Kinder nicht ein, damit sie nicht mutlos werden!"
Liebe Leser,
in meinen Augen hält der Kolosserbrief auch uns heute am Familiensonntag eine Predigt. Sie lautet vor allem: Schraubt die Ideale und die Träume von Familie nicht zu hoch. Sonst überfordert ihr euch gegenseitig und werdet am Ende nur enttäuscht. Gebt eurem Familienbild den rechten Ort zwischen Traum und Wirklichkeit. Es wäre schon viel, wenn Ehepartner ihre Laune nicht aneinander ausließen, wenn Kinder nicht mit übersteigertem Anspruchsdenken die Gutmütigkeit ihrer Eltern aussaugen, wenn die Großeltern nicht in die Ecke der Sponsorenrolle gestellt werden.
Das wäre schon viel. Und vor allem viel mehr wert als das Gerede vom "Band der Liebe" in den Familien.
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