Wenn die Heimat anders ist …

Predigt zum Stefanustag 2002 (Apg 7,54-8,1a; Zw. Ps 126)

"Endlich kommen wir heim. Heim in das Land unserer Väter. Dort, wo der Tempel steht. Wovon unsere alten Lieder singen und die Sehnsucht unserer Ahnen gespeist ist." Mit diesem Traum sind sie aus den griechischen Städten aufgebrochen und nach einer strapaziösen Reise in Jerusalem angekommen.

Aber der Traum von der alten Heimat zerplatzt schnell. Sie hatten gehofft, mit offenen Armen empfangen zu werden. Aber dann die Ernüchterung. Kein Mensch schert sich um sie. Sie verstehen die Einheimischen nicht. Obwohl sie Juden sind, können sie sich mit ihren Glaubenbrüdern nicht verständigen: Die sprechen Aramäisch und beten Hebräisch. Sie sprechen Griechisch. Die haben ihre Häuser und ihre Arbeit, sie stehen da, als würden sie nicht dazugehören. Die haben ihre Familien und Clans hinter sich, und sie stehen mit leeren Händen da. Arbeit zu finden ist schwer. Und eine Sozialhilfe gibt es noch nicht.

Sie hatten gehofft, als Brüder und Schwestern aufgenommen zu werden und bald dazuzugehören. Aber bald steigt das Gefühl hoch: Eigentlich stehen wir in der Heimat draußen vor der Tür. Es ist fatal: In den griechischen Städten hat man sie "die Juden" genannt, und jetzt daheim in Jerusalem, da sind sie "die Griechen". In der Fremde waren sie fremd, und in der Heimat sind sie wieder fremd. In der Fremde waren sie unerwünscht, und in der Heimat geht es ihnen nicht anders.

Und sie spüren sogar, wie die Einheimischen sich von ihnen distanzieren. Sie sorgen sich um sich selbst und ihre Leute. Und denken: Hauptsache, uns geht es gut. Die anderen sollen schauen, wie sie zurecht kommen.

Aber, kaum zu glauben, es gibt doch Leute, die sich für sie interessieren. Leuten, die sogar ihre griechische Muttersprache reden, die aus ähnlichen Gegenden kommen wie sie selbst, die auch mit den Einheimischen Schwierigkeiten haben, die auch von enttäuschten Hoffnungen erzählen. Aber auch davon, dass sie etwas Neues gefunden haben: eine Gemeinschaft, in der es nicht zählt, woher du kommst, was du hast, welche Sprache du sprichst.

Und sie werden eingeladen. Und tatsächlich. Hier fragt man: Was brauchst du? Womit hast du Schwierigkeiten? Wo können wir dir helfen. Kaum zu glauben: Da gibt es eine Gruppe, die kümmerst sich um ihre kleinen und großen Nöte und vor allem die Alten und Ärmsten.

Und die Gruppe ist auch sehr fromm. Sie feiern Gottesdienste. Aber sie gehen nicht mehr in den Tempel. Darauf kommt es nicht an, sagen sie. Sie feiern einen Mann, der selbst mit dem Tempel auf dem Kriegsfuß stand. Der von einem neuen Tempel geträumt hat: wo Menschen anders miteinander umgehen, miteinander teilen, wo es kein Oben und Unten mehr gibt. Und das erfahren sie genau in dieser Gruppe. Sie nennen sich Jesusanhänger.

Und vor allem einer ist faszinierend: der Kontaktmann und Sprecher, Stefanus heißt er. Der organisiert die Hilfsdienste. Und der kann reden und ihre Interessen vertreten. Der fürchtet keine Auseinandersetzung.

Und es kommt, wie es kommen muss: All denen, die wie sie selber aus der Fremde nach Jerusalem gekommen sind, denen es aber geglückt ist, heimisch zu werden, Häuser zu bauen, die fremde Sprache zu lernen, sich wohl zu fühlen, etwas zu gelten – denen sind sie ein Dorn im Auge. Sie verderben den Ruf der Heimkehrer. Angeblich wollen sie sich nicht integrieren. Sie lernen die Sprache des Landes nicht und lassen sich durchhalten.

Und es kommt, wie es kommen muss. Man hat es auf den führenden Kopf abgesehen: auf Stefanus. Der wird Opfer eines Komplotts zwischen integrierten Aussiedlern und einheimischen Juden. Am Ende fliegen Steine.

Liebe Leser, vermutlich haben Sie die Stefanusgeschichte heute einmal ganz anders gehört. Ich habe einfach versucht, die schwierigen Hintergründe, die am Ende zur Steinigung des Stefanus geführt haben, etwas auszumalen und zu erklären. So gesehen, geht es bei der Stefanusgeschichte um ein Problem, das uns in Schweinfurt allen auf den Nägel brennt: um die Integration von Aussiedlern. Wie brandaktuell doch biblische Geschichten sein können.


Pfarrer Stefan Mai

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