Ein Schwätzer-Gott?

Predigt zum Weihnachtsfeiertag 2002 (Joh 1)

Einleitung

Mit nichts anderem tun sich die nichtchristlichen Religionen schwerer als mit dem Festgeheimnis von Weihnachten, nämlich der Menschwerdung Gottes in Jesus von Nazaret. Für Juden und Muslime ist es geradezu anstößig, von dem einzigen Gott zu behaupten, er habe einen Sohn. Für die asiatischen Religionen liegt die Schwierigkeit an einer anderen Stelle. Sie liegen dort, womit das heutige Festevangelium beginnt.

Predigt

Es wird erzählt: Ein buddhistischer Mönch wollte das Christentum kennen lernen. Er ging zu einem katholischen Missionar, um mehr zu erfahren. Dieser aber hatte keine Zeit. Er wimmelte den Mönch ab und drückte ihm noch schnell ein Exemplar des Johannesevangeliums in die Hand: Wenn er es gelesen habe, möge er wiederkommen. Einige Monate später begegnete der Missionar zufällig diesem Mönch auf der Straße. Er erinnerte sich an ihn und fragte nach, ob er das Evangelium gelesen habe. Dieser verneinte. Er sagte: "Schon bei der Lektüre der ersten Zeile ‚Im Anfang war das Wort’ hat sich alles in mir gesträubt." Der Missionar wunderte sich: "Das kann ich nicht verstehen. ‚Im Anfang war das Wort’, das ist doch einer der Spitzensätze unseres Glaubens." "Wissen Sie", entgegnete der Buddhist, "ich komme aus einer Tradition, in der Schweigen wichtiger ist als Reden. Wenn ich Sie richtig verstehe, dann müsst ihr Christen einen Schwätzer-Gott haben!"

So eine Aussage macht betroffen, wenn man die christliche Kultur und die westliche Welt anschaut: Der Buddhist hat nicht ganz so unrecht. Unsere Gesellschaft steht in der Gefahr, sich zu einer Schwätzergesellschaft zu entwickeln.

Was wird da tagsüber alles geredet. Die Handys gehören zu Straßenbild wie die Autos. Und was werden da für wichtige Botschaften übermittelt: "Hallo ich stehe gerade vor dem Kaufhof, und was machst du?" Wer in einem Zugabteil etwas auf sich hält, der muss per Handy die nächsten Stunden organisieren oder wenigstens einmal angerufen werden. Was läuft täglich alles über die Telefondrähte, welche Wortflut strömt tagtäglich über Fernsehen und Rundfunk auf uns ein.

Die Frage ist aber: Wie viele Worte werden wirklich miteinander geredet? Wie viele Worte bleiben wirklich am Abend hängen, von denen ich sagen kann: Die bleiben mir in Erinnerung. Die sind nachdenkenswert und hinterlassen bei mir eine Wirkung. Die Quantität der Worte ist noch lange keine Garantie für die Qualität der Kommunikation.

Trotz einer hochtechnischen Kommunikationsgesellschaft, trotz vieler Worte und vielem Reden ist ein Phänomen bei uns zu beobachten: Viele leiden unter dem Schweigen, obwohl den ganzen Tag geredet wird. Wie viele leiden darunter, dass mit Worten geschwiegen wird; dass sie zwar vollgequasselt werden, ihnen aber eigentlich nichts gesagt wird. Dass Freundlichkeiten, Komplimente ausgetauscht werden, aber nicht ins Wort kommt, was den anderen wirklich bewegt, was der andere wirklich über mich denkt.

Liebe Leser, vielleicht konnte der buddhistische Mönch mit dem Beginn des Johannesevangeliums "Im Anfang war das Wort" deswegen nichts anfangen, weil er das in der westlichen Welt kaum erlebt:

Ein Wort, das so echt ist, dass es Betroffenheit und Schweigen auslöst.

Ein Wort, das nachdenklich macht und wirklich einen Impuls für die Lebensgestaltung gibt.

Ein Wort, das Beziehung stiftet und verlässlich bleibt.

Fürbitten

Wir vertrauen Gott unsere Bitten an. Ganz bewusst hören wir schweigend zu.

Wir beten für alle, die das Wort Gottes verkünden

Für alle, die es erforschen und übersetzen

Für alle, die nach ihm leben

Wir beten für alle, deren Worte verletzen

Für alle, die mehr reden als zuhören

Für alle, die ihre Wortgewandtheit ausnutzen

Wir beten für alle, die uns die Welt erklären

Für alle, die in den Medien verantwortlich mit dem Wort umgehen

Für alle, die wissen, dass hinter jedem Wort ein Mensch steht


Pfarrer Stefan Mai

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