Man legt Gott nicht auf die Erde

Christmette 2002

Kirche dunkel

Eingangslied: GL 111,1+4 (Die Nacht ist vorgedrungen)

Einleitung

Christen feiern Weihnachten mitten in der Nacht. Am Höhepunkt des Weihnachtsevangeliums werden die Worte gesungen: "Ich verkündige euch eine große Freude. Heute ist euch der Heiland geboren." Eine seltsame Mischung: Nacht und Freude, Jubel und Dunkelheit, Furcht und Engelsgesang.

Vielleicht ist gerade diese Mischung das Anziehende an diesem Fest und an dieser Feier. Das Weihnachtsevangelium wird gerade denen gesungen, denen nicht nach Jubel zumute ist, die Sehnsucht nach einem Hoffnungsschimmer mitten in der Nacht in sich tragen.


1. Psalm

Folie: Stern aus der Geburtsgrotte in Bethlehem



GL 842: "Christus ist uns heute geboren" (V-A)

GL 842,1-3 (V)

GL 842: "Christus ist uns heute geboren" (A)


1. Bild: Gesicht hinter Scheibe



GL 756,1-4 (V)

GL 842: "Christus ist uns heute geboren" (A)

GL 756,5-8 (V)

Folie: Stern aus der Geburtsgrotte in Bethlehem



GL 842: "Christus ist uns heute geboren" (A)


2. Psalm

GL 843: "Kundgetan hat der Herr sein Heil" (V-A)

2. Bild: einsamer Beter



GL 720,1-3 (V)

GL 843: "Kundgetan hat der Herr sein Heil" (A)

GL 720,5.7-8 (V)

Folie: Stern aus der Geburtsgrotte in Bethlehem



GL 843: "Kundgetan hat der Herr sein Heil" (A)


3. Psalm

GL 844: "Ein Kind ist uns geboren" (V-A)

3. Bild: verbitterter alter Mann



GL 733,1-4 (V)

GL 844: "Ein Kind ist uns geboren" (A)

GL 733,7.9-12 (V)

Folie: Stern aus der Geburtsgrotte in Bethlehem



GL 844: "Ein Kind ist uns geboren" (A)



Gebet

Gott,

du Licht in der Finsternis,

in dieser Nacht feiern die Geburt Jesu.

Du kommst uns entgegen, die wir im Dunkeln tasten,

und lässt uns Jesus Christus schauen,

tröstendes Licht für unsere Augen.

Licht an



Predigt

Ein Franziskanerpater erzählt: Es war in einem Seminar zum Thema islamisch-christlicher Dialog. Eingeladen waren Muslime und Christen. Unter den Teilnehmern war ein Mullah, der als Seelsorger für die schiitischen Afghanen und Libanesen in Deutschland tätig ist.

Um sich kennen zu lernen, hatte der Leiter des Seminars Blätter mit einzelnen Stichworten vorbereitet, zu denen die Teilnehmer aus beiden Religionen sagen sollten, welche Gedanken ihnen dazu kommen. Der Leiter legte ein Blatt mit dem Stichwort "Religion" in der Mitte des Kreises auf den Boden. Eine erstaunliche Bandbreite im Verständnis von Religion kam zur Sprache. Ein zweites Blatt wurde auf den Boden gelegt. "Gott" stand groß darauf. Erst war es einen Augenblick still – und dann passierte folgendes: Der Mullah begann auf seinem Platz hin- und her zu rutschen, wurde zunehmend unruhig, schließlich stand er auf, holte einen Stuhl, stellte ihn in die Mitte, fasste das Blatt mit Ehrfurcht an, hob es langsam hoch, legte es respektvoll auf den Stuhl und sagte: "Man legt Gott nicht auf die Erde!".

Betroffene Stille in der Gruppe. Alle waren beeindruckt von der Ehrfurcht dieses Mannes vor Gott, die sogar dem Papier galt, auf dem das Wort "Gott" geschrieben war (vgl. puk 1/2003, 51f.).

Und trotzdem: An Weihnachten liegt Gott auf dem Boden. Im Weihnachtsevangelium liegt Jesus im Futtertrog. Die Künstler des Mittelalters legen ein nacktes Kind auf den blanken Erdboden. Die Weihnachtslieder singen: "Er kommt aus seines Vaters Schoß und wird ein Kindlein klein. Er liegt dort elend, nackt und bloß in einem Krippelein." Und trotz silbernem Stern, mit dem die Stelle in der Geburtskirche von Bethlehem, die an die Geburt Jesu erinnert, verziert ist, bleibt die harte Tatsache: Gott liegt auf der Erde.

Gott liegt auf der Erde. Das ist die große Provokation des Christentums. Aber sie besteht nicht darin, Gott in den Staub zu treten, Gott keine Ehrfurcht entgegen zu bringen.

Die Provokation besteht darin: Gott im Himmel wird dann die größte Ehre erwiesen, wenn Menschen sich so verhalten wie derjenige, der da als kleines Kind auf dem Boden gezeigt wird und der am Ende seines Lebens aufs Kreuz gelegt wird.

Gott wird die größte Ehrfurcht dort gezeigt, wo sich Gesichter den Menschen zubeugen, die am Boden liegen.

Gott wird nicht dort am höchsten verehrt, wo die Hände am höchsten zum Himmel erhoben werden, sondern wo Menschen – wie Jesus – sich im Umgang nicht zu schade sind für die im Dreck.

Gotteslob findet dort seinen höchsten Ausdruck, wo ein gutes Wort einen gebeugten Menschen aufbaut.

Liebe Leser, von diesem Gotteslob ist der neue Film "Der Mann ohne Vergangenheit" vom finnischen Regisseur Aki Kaurismäki gespickt voll. Er erzählt von nichts anderem: von Menschen, die in der Nähe des Abgrunds barmherzig miteinander umgehen. Immer wieder geht es um eine Tasse Kaffee, um eine Suppe, die drei Leute gemeinsam löffeln, oder um das Essen, das einem Habenichts serviert wird, ohne dass er darum betteln muss. Der Film erzählt von einem Mann, der brutal zusammengeschlagen wird, sein Gedächtnis verliert, aber von einer Frau aufgelesen wird, die ihn gesund pflegt und meint: "Ich und meine Familie haben Glück gehabt. Mein Mann hat hin und da Arbeit als Nachtwächter und wir haben eine Wohnung." Und auf der Kinoleinwand erscheint ein rostender Wohncontainer. Und wie der Namenlose einmal einen der vielen, die ihm ihre Hände entgegengestreckt und ihn aus dem Dreck gezogen haben, fragt, was er ihm denn schuldig sei, bekommt er die Antwort: "Siehst du mich mal in der Gosse mit dem Gesicht nach unten, dann dreh’ mich um!"

Das christliche Weihnachtsfest lenkt unseren Blick auf einen hilflosen Menschen am Boden. Der Film von Kaurismäki sagt mir: Da hat einer die Provokation der Weihnachtsbotschaft verstanden.


Pfarrer Stefan Mai

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