Volkstrauertag 2002

Volkstrauertag 2002

Der wohl bekannteste Kriegsfotograf dieses Jahrhunderts ist Robert Capa. Nicht aus Sensationslust, nicht aus Nervenkitzel, nicht um den Adrenalinspiegel von gelangweilten Wohlstandsbürgern anschwellen zu lassen, schießt er seine Bilder von Tod und Zerstörung, von Blut und Tränen, von Verzweiflung und Grausamkeit. Capa sah es als seine Aufgabe an, über das von Menschen entfesselte Inferno des Krieges zu berichten, um den Menschen des 20.Jahrhunderts ein leidenschaftliches Plädoyer für den Frieden angesichts der Folgen von Krieg und Terror zu hinterlassen. Seine Aufnahmen sind nicht nur historische Dokumente, sie sind Abbild eines starken Mitgefühls, Ausdruck tiefer Sympathie für alle, die unter dem Krieg zu leiden hatten, vor allem für Kinder und Mütter.
Unsterblich geworden ist jedoch Kurt Reuber durch seine sogenannte Madonna von Stalingrad. Vor 60 Jahren, in den Dezembertagen des Jahres 1942, nahm er einen Kohlestift und malte auf die Rückseite einer russischen Landkarte das Bild, das sie in den Händen haben: Eine Mutter, die soeben ein Kind geboren hat: Maria und Jesus. Zwei hilflose Gestalten, wehrlos und schutzbedürftig. Die Mutter, selbst voller Angst hüllt das Kind mit ihrem Gewand ein in dieser harten, unerbittlichen Situation und versucht, ihm Geborgenheit zu schenken. Welch ein Kontrast. Angst und zugleich Geborgenheit, totale Hilflosigkeit und zugleich eine unglaubliche Kraft, die von diesem Bild ausgeht.

Der evangelische Pfarrer und Arzt Kurt Reuber, den der zweite Weltkrieg durch die Kriegslazarette in Sibirien, Rumänien, Bulgarien, Griechenland und schließlich nach Stalingrad führte, hatte stets die Opfer des Krieges vor Augen. Er hatte weder Fotoapparat noch Filmkamera bei sich, aber wie Robert Capa setzte er ihnen ein Andenken. Er hielt sie in vielen Bleistiftzeichnungen fest. In seinen Portraits zeichnete er die unter dem Krieg leidenden Menschen, vor allem Buben und Mädchen, Kriegsgefangene, Bauern und Handwerker, alte Männer und Frauen aus den russischen Dörfern.

Welch ein Kontrast in den Worten, die den Rahmen der Zeichnung bilden! Am linken Bildrand steht geschrieben: 1942-Weihnachten im Kessel. Am rechten Bildrand lesen wir die Worte: Licht – Leben - Liebe. Auf der einen Seite der Hinweis auf Untergang und Tod. Auf der anderen Seite eine Botschaft des Lebens und der Zuversicht.
Welch eine Botschaft, die der damals 36-jährige Kurt Reber für die Weihnachtsfeier 1942 zur Ausschmückung des Bunkers zeichnete, um - wie er in einem Brief mitteilte - seinen Kameraden eine Freude zu machen und ein wenig Trost zu spenden.

Ein Aufruf zur Versöhnung und Mahnung zum Frieden: Licht statt Finsternis, Leben statt Tod, Liebe statt Hass.

Welch ein Glaubenszeugnis eines Menschen in der Tragödie des Untergangs:

Licht! Nicht die Nacht wird am Ende siegen.

Leben! Nicht der Tod wird das letzte Wort haben.

Liebe! Nicht der Hass wird zuletzt triumphieren.

Liebe Leser, ein Robert Capa mit seinen Fotografien, ein Kurt Reuber mit seiner Madonna wollten Zeichen setzen. Sie wollten in Bildern mitten in Krieg und Elend den Glauben an Humanität und Frieden nicht sterben lassen.

Der Volkstrauertag hätte keinen Sinn, wenn wir nicht überzeugt wären, dass von diesem Tag aus eine Wirkung ausgehen soll. Er hätte keinen Sinn, wenn er nicht, mögen die Worte noch so unbeholfen sein, den Bildern von Zerstörung und Tod Visionen des Lebens und der Hoffnung entgegenstellen würde.

Ich denke, nur über das Hineindenken in die Opfer und der unter Krieg und Terror Leidenden kann die Wahnsinnsspirale von Hass und Vernichtung durchbrochen werden. Gerade deswegen sind Bilder von den mutigen russischen Müttern, die nach Tschetschenien fuhren, um ihre Söhne aus dem Krieg zu holen, und Bilder von den Witwen des 11. Septembers und ihren Kindern, mit denen etwas vom Vater weiterlebt, den sie verloren, bevor sie geboren wurden, so wichtig. Ich denke, es sind moderne Nachahmungen des 60 Jahre alten Bildes der Madonna von Stalingrad.


Pfarrer Stefan Mai

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